Große Koalition 2005-2009

Datum 18.08.2015 22:58 | Thema: Reform- und Steuerpolitik

Große Koalition 2005-2009 

Angela Merkel bestritt den Bundestagswahlkampf 2005 mit einem Reformprogramm, das die CDU auf ihrem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 mit überwältigender Mehrheit beschlossen hatte. Im Mittelpunkt standen ein erneuertes Steuerrecht und die Einführung der Prämienfinanzierung bei der Krankenversicherung. Mit diesen politischen Initiativen wollte die CDU die wirtschafftliche Stagnation überwinden und die hohe Arbeitslosigkeit  bekämpfen. Mit der Vereinfachung und Senkung der Steuern sollten Impulse für wirtschaftliches Wachstum gesetzt werden. Die Umstellung der Finanzierung der Krankenversicherung von lohnabhängigen Beiträgen auf eine Gesundheitsprämie diente dem Zweck, die Arbeitskosten zu senken.

Nach der Bundestagswahl 2005 gerieten die Pläne der CDU schlagartig in Vergessenheit. Angela Merkel wollte Bundeskanzlerin werden und bildete mit der SPD eine große Koalition, in der die Sozialdemokraten alle Ministerien übernahmen, die für die Reformpolitik zuständig waren. Damit war der Konflikt zwischen der Bundesregierung und dem Wirtschaftsflügel der Union, insbesondere der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT), vorprogrammiert. Denn die Koalitionsregierung und die sie tragenden Parteien  fühlten sich an frühere Parteitagsbeschlüsse immer weniger gebunden und verfolgten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mehr und mehr einen von der SPD vorgegebenen Kurs.


Die Erhöhung der Mehrwertsteuer

Der erste Konflikt betraf die Vereinbarung der großen Koalition vereinbarte, zur Sanierung des Haushalts die Mehrwertsteuer um insgesamt drei Prozentpunkte zu erhöhen. Im Wahlprogramm hatte die Union zwei Prozentpunkte mit der Begründung angekündigt, damit die Lohnnebenkosten senken zu wollen. Plötzlich wurden daraus drei Prozentpunkte, mit denen Haushaltslöcher gestopft werden sollten. Die MIT wollte dies nicht akzeptieren, weil die Haushaltssanierung nach ihrer Auffassung nicht über höhere Steuern, sondern über weniger Ausgaben erfolgen sollte. Die Mehrwertsteuererhöhung war zudem ein Konjunkturdämpfer, der sich negativ auf die Beschäftigungslage auswirken musste.

Die angebliche Gesundheitsreform

Ein zweites Beispiel war das Verhandlungsergebnis zwischen Angela Merkel und der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zur Gesundheitspolitik. Die Union hatte sich auf dem Leipziger Parteitag auf die Gesundheitsprämie festgelegt, um die Lohnnebenkosten zu entlasten.  Die SPD wollte stattdessen eine sog.  Bürgerversicherung, in der alle Bürger entsprechend ihrem Einkommen zur Beitragszahlung verpflichtet sein sollten. Jedem leuchtete ein, dass man sich entweder für das eine oder das andere Modell entscheiden musste. Ein Kompromiss war nicht denkbar.

Statt sich dies einzugestehen, verständigten sich Angela Merkel und Ulla Schmidt auf einen zentralen Gesundheitsfonds des Bundes. Dieser sollte sämtliche Beitrags- und  Bundeszuschüsse vereinnahmen, um sie dann nach einem neuen Schlüssel an die Krankenkassen zu verteilen. Gleichzeitig nahm man den Kassen das Recht, den zukünftigen Beitrag selbst  festzusetzen, und übertrug  die Beitragsfestsetzung dem Deutschen Bundestag. Der eigentliche Zweck des Gesundheitsfonds bestand also darin, dem Bund die alleinige Verfügungsmacht über sämtliche Beitrags- und Steuermittel für das Gesundheitswesen zu verschaffen und die bis dahin  selbständigen Kassen zu entmachten. Ein solcher Schritt in Richtung Staatsmedizin war für die MIT inakzeptabel. Mit den ursprünglichen Reformzielen, den Arbeitsmarkt von den Gesundheitskosten zu entlasten,  hatte dieses Ergebnis nichts mehr zu tun.

Der Gesundheitsfonds entwickelte sich in der Folgezeit erwartungsgemäß zu einem Instrument der Politik, das auch für Zwecke außerhalb der Gesundheitsversorgung eingesetzt werden konnte. Ein typisches Beispiel war ein Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Herman Gröhe (CDU), dem das Kabinett Anfang August 2016 zustimmte. Danach sollten die Krankenkassen 1.5 Milliarden Euro zusätzlich aus der Reserve des Gesundheitsfonds bekommen, um daraus Zusatzkosten für die Asylbewerber zu bezahlen. Gesundheitspolitiker der Koalition kritisierten solche Pläne, die der Bundesfinanzminister auf den Weg gebracht hatte. Die Finanzierung der Flüchtlingskosten, auch der Gesundheitskosten, sei Sache des Bundes und nicht der Krankenkassen, betonten sie fraktionsübergreifend. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus Steuermitteln und nicht aus Beitragsmitteln der Versicherten finanziert werden müssten.

Die Verschärfung des Antidiskriminierungsgesetzes

Ein weiterer Streitpunkt entstand, als das Antidiskriminierungsgesetz auf die Tagesordnung des Bundestages kam. Der 2005 noch mit der damaligen rot-grünen Mehrheit im Bundestag beschlossene Entwurf sah vor, dass niemand im privaten Rechtsverkehr "wegen ethnischer Herkunft, Rasse, Geschlechts, Behinderung, Alters, sexueller Orientierung, Religion und Weltanschauung benachteiligt" werden dürfe. Das Gesetz trat seinerzeit nicht in Kraft, weil es im Bundesrat, der von der Union beherrscht wurde, keine Mehrheit fand. Nach Bildung der großen Koalition bestand die SPD darauf, dass der Entwurf  in der alten Fassung als Gesetz beschlossen werden sollte.

Noch Anfang 2005 hatte Angela Merkel als Oppositionsführerin angekündigt, den Entwurf, den sie damals  als „Jobkiller“ bezeichnete, als erstes Gesetz wieder zurückzunehmen zu wollen. Denn inhaltlich ging der Entwurf  weit über die maßgebliche europäische Richtlinie hinaus, die nur ein Benachteiligungsverbot aufgrund von "ethnischer Herkunft, Rasse und Geschlecht" vorsah. Im Koalitionsvertrag war auch ausdrücklich das Ziel vereinbart worden, „die europäische Gesetzgebung auf das tatsächlich Notwendige zu beschränken“. Dies bedeutete, dass der Entwurf in der ursprünglichen Fassung nicht beschlossen werden durfte. Die MIT forderte von der Kanzlerin deshalb „die Nachbesserung der Gesetzgebung und die Zurücknahme der deutschen Sonderregelungen“. Vergeblich. Entgegen dem Koalitionsvertrag und trotz massiver Kritik aus der Wirtschaft beschloss der Bundestag  ein Antidiskriminierungsgesetz, das über das Notwendige weit hinaus ging.

Nach Inkrafttreten des Gesetzes wurde es um das Thema der Antidiskriminierung relativ ruhig, bis die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Mitte 2016 mit neuen Vorschlägen in die Öffentlich trat. In einem sogenannten Evaluierungsbericht, den ein grüner Kommunalpolitiker verfasst hatte, wurde auf angebliche "Schutzlücken" des Gesetzes hingewiesen. "Wenn Menschen dieses Recht durchsetzen wollen, sind die Hürden oft zu hoch, monierte die Behörde, "der Schutz vor Benachteiligungen muss effektiver werden". Konkret wurden längere Klagefristen, ein Klagerecht für Verbände und mehr Befugnisse für die Antidiskriminierungsstelle gefordert. Hierbei berief sich die Behörde auf den Koalitionsvertrag der laufenden Legislaturperiode, der besagte: "Wir werden die Ergebnisse der Evaluierung umsetzen."

Kritik kam von Seiten der Wirtschaft und aus der CDU-Fraktion. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) rügte die mangelnde Wissenschaftlichkeit des Gutachtens. Die Vorschläge gehörten in den Papierkorb. Michael Fuchs (CDU) sagte: "Was uns als Evaluierungsbericht verkauft wird, hält keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand. Dieser sogenannte Evaluierungsbericht ist vielmehr ein Forderungskatalog." Unterstützung bekam die Antidiskriminierungsstelle vom Deutschen Gewerkschaftsbund, der insbesondere die Forderung nach einer längeren Klagefrist und einem Verbandsklagerecht begrüßte. .

Die Reform der Unternehmenssteuern

Ein besonders heiß umkämpftes Thema war die Reform der Unternehmenssteuern. Nach der Vorgabe des Koalitionsvertrages sollten „international wettbewerbsfähige Steuersätze realisiert“ werden. Ziel der Bundesregierung war es, den Standort Deutschland für Kapitalgesellschaften attraktiver zu machen. Dies bedeutete für Finanzminister Peer Steinbrück, dass der Steuersatz für thesaurierte Gewinne  solcher Gesellschaften 30 Prozent nicht übersteigen durfte. Bei einer Gewerbesteuerbelastung von etwa 15 Prozent musste die Körperschaftssteuer demnach von 25 auf 15 Prozent sinken. Dies sollte  „weitgehend aufkommensneutral“ erfolgen, indem die Steuersatzsenkung  durch eine Ausweitung der Bemessungsgrundlage kompensiert werden sollte. Die Koalition einigte sich auf ein Entlastungsvolumen von insgesamt 29 Mrd. Euro, wovon rund 24 Mrd. Euro durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gegenfinanziert werden sollten. Hierbei dachte man an die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht und die Erweiterung der Besteuerungsgrundlage um Zinsen, Pachten und Leasingraten.

Solche Pläne mussten den Widerstand des Wirtschaftsflügels wecken: Denn die breitere Bemessungsgrundlage belastete vor allem die mittelständischen Personengesellschaften, ohne dass sie von der Steuersatzsenkung profitierten. Außerdem kritisierte die  Wirtschaft die Einbeziehung von Betriebsausgaben wie Zinsen, Pachten und Leasingraten in die Besteuerungsgrundlage als groben Verstoß gegen das Prinzip der „Versteuerung nach der Leistungsfähigkeit“. Auf Seiten der CDU war Roland Koch derjenige, der sich vehement für eine solche Erweiterung der Steuergrundlage stark machte, wobei er behauptete, dass große Konzerne  mit Hilfe solcher Ausgaben  Gewinne in Niedrigsteuerländer verschöben. Der Gesetzgeber müsse einschreiten, um „Steuersubstrat in Deutschland zu halten“.

Der FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms kritisierte diese Argumentation als einen Verstoß gegen elementare Steuergrundsätze: „Das heißt: auch Kosten sollen besteuert werden. Damit wird das Steuersystem auf den Kopf gestellt. Grundlegende Prinzipien wie die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und das Nettoprinzip werden aufgehoben. Man fragt sich, ob Herr Koch allen ökonomischen Sachverstand verloren hat.“ Das Argument, man müsse auch Zinsen besteuern, um Steuersubstrat in Deutschland zu halten, sei grundfalsch, argumentierte Solms: „Wenn ich dazu übergehe, auch Zinskosten zu besteuern, dann wird nicht etwa die Fremdfinanzierung aus dem Ausland eingeschränkt, sondern dann wird gleich der ganze Geschäftssitz ins Ausland verlagert. Es ist empörend, wie man sich um eines kurzfristigen haushaltspolitischen Vorteils willen über seit langem feststehende ökonomische und steuerpolitische Prinzipien hinwegsetzt.“

Solms hatte Recht! Der Wirtschaftsflügel konnte sich aber nur in einem Punkt  durchsetzen: Aus Gründer der Rechtsformneutralität erhielten Personengesellschaften die Möglichkeit, eine Thesaurierungsrücklage zu bilden, die mit dem für Kapitalgesellschaften geltenden Steuersatz von 30 Prozent besteuert wurde.

Die Reform der Erbschaftssteuer

Ein weiteres Steuerthema, zu dem de MIT unterschiedliche Vorstellungen hatten, war die Reform der Erbschaftssteuer. Sie war erforderlich geworden, weil das Bundesverfassungsgericht die unterschiedliche Bewertung von Privat- und Betriebsvermögen für verfassungswidrig erklärt hatte. Aus diesem Urteil hätte das für die Reform verantwortliche Duo „Steinbrück-Koch“ lernen können, dass jede Begünstigung von Betriebsvermögen gegenüber privaten Vermögensarten bei der Erbschaftssteuer auf verfassungsrechtliche Grenzen stößt. Eine solche Begünstigung sah jedoch auch das von ihnen vorgelegte neue Erbschaftsgesetz vor. Für sog.  „produktives Betriebsvermögen“ war darin unter der Voraussetzung einer zehnjährigen Betriebfortführung eine komplette Befreiung von der Erbschaftssteuer vorgesehen.

Das Gesetz konnte  deshalb nach Einschätzung der MIT bei einer erneuten Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben. Der Vorschlag war deshalb, bei der Erbschaftssteuer einen grundsätzlichen Systemwechsel durchzuführen, den der Verfasser dieses Beitrages „FOCUS Online“ in einem Interview erläuterte:

FOCUS Online: Was halten Sie von den Plänen der großen Koalition, Betriebe teilweise von der Steuerpflicht auszunehmen?

Schlarmann: Dieses Gesetz kann man in der jetzigen Fassung einstampfen. Darin soll zwischen einem produktiven und einem nichtproduktiven Teil des Betriebsvermögens unterschieden werden. Solche Differenzierungen sind willkürlich und sicher nicht verfassungsgemäß.

FOCUS Online: Und dann?

Schlarmann: Am liebsten wäre mir, wir würden die Erbschaftssteuer ganz abschaffen. Sie bringt dem Staat vergleichsweise wenig Geld, verursacht aber beim Fiskus wie bei Unternehmen und Erben sehr viel Aufwand und Ärger. Eine Abschaffung ist aber wohl utopisch. Das Urteil des Verfassungsgerichts bietet nun aber eine einmalige Chance für einen Systemwechsel.

FOCUS Online: Und wie soll der aussehen?

Schlarmann: Der komplette Nachlass wird zum Verkehrswert mit zwei Prozent besteuert. Das ist ein extrem niedriger Steuersatz. Dafür fallen aber alle Ausnahmen und Freibeträge weg. Die zwei Prozent gelten dann fürs Einfamilienhaus genauso wie für ein Bankkonto oder das Unternehmen.

FOCUS Online: Dann müssten aber auch Klein-Erben zahlen – oder? 

Schlarmann: Mit einem solchen Steuersatz können alle leben. Wer ein schuldenfreies Haus im Wert von 250.000 Euro erbt,  für das er nicht gearbeitet hat, kann dafür auch einmalig 5.000 Euro Steuern aufbringen. Das wäre einfach, gerecht und verfassungsfest. Und für den Fiskus springt am Ende auch noch mehr Geld raus.


Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil von 17. Dezember 2014 das vom Duo „Steinbrück-Koch“ geschaffene Erbschaftssteuergesetz erwartungsgemäß für verfassungswidrig erklärt, weil es in der geltenden Verschonungsregelung eine unverhältnismäßige Begünstigung des Betriebsvermögens sieht.  Das Gericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zu 30. Juni 2016 für eine Neuregelung zu sorgen, um den verfassungsmäßigen Bedenken Rechnung zu tragen (Siehe auch  Beitrag  "Erbschaftssteuerreform 2015).

Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I

Ein grundsätzlicher Streit über den wirtschaftspolitischen Kurs der Union entstand, als Jürgen Rüttgers (CDU) im November 2006 auf dem Dresdener Parteitag der CDU den Antrag stellte, die Laufzeit des Arbeitslosengeldes I an die Zahl der Beiträge zu koppeln. Damit wollte er die Bezugszeiten für ältere Arbeitnehmer verlängern und einen wesentlichen Baustein der Schröderschen  Agenda 2010 verändern. Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) war über diese „Sauerei stinksauer“. Der Kommentar des Verfassers dieses Beitrages war:  „Dies ist der Versuch, die SPD links zu überholen“.

Um dem Antrag von Rüttgers auf dem Parteitag etwas entgegen zusetzen, stellte der baden-württembergische Landesverband der CDU mit Unterstützung des Wirtschaftsflügels den Antrag, den Kündigungsschutz bei Neueinstellungen zu flexibilisieren. Beide Anträge wurden im Vorfeld des Parteitages miteinander gekoppelt und dann mit großer Mehrheit angenommen. Ziel dieses „Handels“ war es, in der Öffentlichkeit das Bild von Einigkeit und  Geschlossenheit zu zeigen.

In der großen Koalition fanden beide Anträge dann aber – wie zu erwarten -  eine unterschiedliche Behandlung. Der Antrag auf Flexibilisierung des Kündigungsschutzes geriet schnell in Vergessenheit. Demgegenüber mobilisierte der Antrag auf Verlängerung des ALG I auch die SPD und wurde Gegenstand eines heftigen Koalitionsstreits.  Die MIT forderte deshalb die Bundeskanzlerin auf, einer Verlängerung der Bezugsdauer  des ALG I nur zuzustimmen, wenn gleichzeitig der Kündigungsschutz gelockert werde. „Die Bundeskanzlerin muss den Doppelbeschluss des CDU-Parteitages einhalten. Wenn in der großen Koalition über die Reform des Arbeitslosengeldes gesprochen wird, muss gleichzeitig auch die Deregulierung des Arbeitsmarktes auf den Tisch kommen“, mahnte der Verfasser dieses Beitrages. Es kam aber anders: Das Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer wurde verlängert. Am Kündigungsschutz änderte sich nichts. 

Das Einknicken der Union beim Mindestlohn

Bei der wichtigsten  Auseinandersetzung in der großen Koalition ging um die Frage, ob die CDU dem Drängen der Gewerkschaften nachgeben sollte, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Die Beschlusslage der Partei war eindeutig: Die CDU lehnte Mindestlöhne generell ab. Stattdessen galt das „Konzept des Mindesteinkommens“, wonach nicht ausreichende Löhne durch öffentliche Zuschüsse auf ein die "soziale Existenz" sicherndes Niveau aufgestockt werden sollten. So stand es noch im Grundsatzprogramm von 2007. In Teilen der Unionsführung war der Widerstand gegen Mindestlöhne jedoch bereits erlahmt. Christian Wulff argumentierte:  „Dieses Thema dürfen wir  wegen seiner Popularität nicht der SPD überlassen.“ 

Unter dem Eindruck der Ost-Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft zum 1. Mai 2004 hatte sich die große Koalition im Koalitionsvertrag auf die Möglichkeit verständigt, zum Schutz der deutschen Arbeitnehmer vor ausländischer Billiglohnkonkurrenz  tariflich vereinbarte  "Branchenmindestlöhne" zuzulassen. Schon dies war ein erster Abschied vom Konzept des „Mindesteinkommens“. Es wurden aber für Branchenmindestlöhne strenge Voraussetzungen vereinbart: Es musste ein flächendeckender Tarifvertrag vorliegen. Dieser musste für allgemeinverbindlich erklärt worden sein. Und schließlich mussten auf dem Arbeitsmarkt durch Zuzug ausländischer Arbeitnehmer„soziale Verwerfungen“  entstanden sein.

Diese Voraussetzungen wurden jedoch zunehmend verwässert. Ziel von Arbeitsministers Franz Müntefering (SPD) war es, für immer mehr Branchen Mindestlöhne festsetzen zu lassen. Eine Arbeitsgruppe unter seiner Führung  wurde beauftragt, Vorschläge für einen solchen „Niedriglohnsektor“ zu entwickeln. Während die Bundeskanzlerin ihre Partei ermahnte, man dürfe der SPD im Mindestlohnstreit nicht immer weiter entgegenkommen, und CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla öffentlich erklärte,  „Wir wollen keine gesetzliche Absicherung von Mindestlöhnen in Deutschland“,  arbeitete Franz Müntefering  im Auftrag der Bundesregierung,  intensiv daran, solche Löhne für immer mehr Branchen möglich zu machen. Endgültig sollte darüber im Juni 2007 durch den Koalitionsausschuss entschieden werden.

Vor dieser Sitzung  fragte die „Berliner Zeitung“ den Verfasser dieses Beitrages: „ Kann die Kanzlerin die harte Linie denn durchhalten?“ Die Antwort war: „Sie muss die harte Linie durchhalten. Wenn sie erneut nachgibt, setzt sie ihre ordnungspolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Das wäre ein riesiger Fauxpas. Der Mindestlohn würde in einer Reihe stehen mit den Fehlentscheidungen zum Anti-Diskriminierungsgesetz und zur Gesundheitsreform.“ Angela Merkel hatte sich aber längst anders entschieden. Ohne Vorbehalte akzeptierte sie den Vorschlag von Franz Müntefering, branchenbezogene Mindestlöhne auch dann zuzulassen, wenn die genannten Voraussetzungen dafür nicht vorliegen. Dies war ein Blankoscheck  für die Ausweitung des Mindestlohnsektors.  Zu Recht sprach die SPD danach „von einem Durchbruch beim Mindestlohn“. Das vom Parteitag der CDU beschlossene "Konzept des Mindesteinkommens" hatte die Kanzlerin ohne parteiinterne Diskussion einkassiert. 

Die Entwicklung in Richtung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns war danach nicht mehr aufzuhalten. Auf ihrem Parteitag 2011 beschloss die CDU auf Antrag ihres Arbeitnehmerflügels (CDA): "Die CDU hält es für notwendig, eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tariflich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Lohnuntergrenze wird durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt." Es folgte der Koalitionsvertrag 2013, in dem CDU/CSU und die SPD vereinbarten, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde festzusetzen. Am 1. Januar 2015 trat dieser Mindestlohn in Kraft. Für den deutschen Arbeitsmarkt war dies eine tiefgreifende Zäsur.





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