Hidden Agenda (2006)

Datum 05.01.2019 22:25 | Thema: 

Hidden Agenda

(2006)

In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine politische Tätigkeit und Erlebnisse im Jahr 2006.

Schrittweise Kursänderung

Nach Bildung der großen Koalition stand die MIT vor einem grundsätzlichen Problem: Die Union stellte die Kanzlerin, aber die Ministerien für die Kernanliegen der MIT waren bei der SPD. Damit drängten sich zwei Fragen auf: War die große Koalition überhaupt willens und in der Lage, auf die politischen Forderungen der MIT einzugehen? Und wie sollten wir reagieren, wenn dies nicht der Fall war, womit ich rechnete?

Das Dilemma für Angela Merkel und den neuen Generalsekretär Ronald Pofalla war, dass die Leipziger Reformbeschlüsse und der mit der SPD abgeschlossene Koalitionsvertrag nicht zusammen passten. Als Kanzlerin der großen Koalition war Angela Merkel an den Koalitionsvertrag gebunden, der in weiten Teilen die Handschrift der SPD trug. Als Vorsitzende der CDU konnte sie aber die von ihr initiierten Leipziger Beschlüsse nicht einfach über Bord werfen, wenn sie glaubwürdig  bleiben wollte. Was sollte sie also tun, um diesen Konflikt zu lösen?

Ihre Lösung bestand darin, alles im Ungefähren zu lassen und über die Widersprüche nicht zu sprechen. So konnte sie hoffen, dass die Leipziger Beschlüsse allmählich in Vergessenheit geraten würden. Zudem der Sozialflügel der Partei ein großes Interesse daran hatte, dieses „neoliberale“ Machwerk verschwinden zu lassen und durch mehr „soziales“ Profil zu ersetzen. In einer ähnlichen Lage befand sich die SPD, wo der linke Flügen gegen Schröders „neoliberale“ Agenda 2010 zu Felde zog. 


Politische Konflikte

Die große Koalition orientierte sich am Koalitionsvertrag, der in vielen Punkten der MIT-Beschlusslage widersprach. So konnte es gar nicht ausbleiben, dass es zu Konflikten mit der neuen Bundesregierung kam. Wir waren auch entschlossen, öffentlich zu protestieren, wenn wir nicht gehört wurden.

So stieß die im Koalitionsvertrag vereinbarte Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte auf  unseren Widerstand, weil die zusätzlichen Steuereinnahmen entgegen der Zusage von Angela Merkel im Wahlkampf nicht zur Senkung der Beiträge der Arbeitslosenversicherung, sondern zur Sanierung des Staatshaushalts verwendet werden sollten. Wir sahen darin einen Vertrauensbruch und auch ein falsches Mittel zur Belebung der Konjunktur.

In gleicher Weise waren wir empört, als Angela Merkel einen Gesetzentwurf der rot-grünen Vorgängerregierung zum Diskriminierungsschutz, der im Bundesrat an den Stimmen der Union gescheitert war, mit den Stimmen der Union im Bundestag passieren ließ. Wir sahen in dem Gesetz, das  über die EU-Vorgaben weit hinausging, einen massiven  Eingriff in die Vertragsfreiheit und ein Hindernis zu mehr Beschäftigung. Denn als Oppositionsführerin hatte Angela Merkel das Vorhaben der SPD als „Jobkiller“ bezeichnet und angekündigt,  das Gesetz im Fall ihrer Kanzlerschaft wieder aufzuheben. Daran erinnerte ich sie und sagte den Medien: „Die Union verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie öffentlich Freiheit predigt und in der Koalition Staatswirtschaft praktiziert“.

Ein weiterer Kritikpunkt war die von der Vorgängerregierung beschlossene vorgezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge, um einen Finanzierungsengpass bei der Rentenversicherung zu beseitigen. Der Beschluss bedeutete, dass die inländischen Unternehmen im Jahr 2006 nicht 12-mal, sondern 13-mal Sozialbeiträge zahlen mussten, was vor allem für arbeitsintensive Betriebe einen enormen Liquiditätsentzug bedeutete. Ich bat deshalb die Bundeskanzlerin in einem persönlichen Schreiben, die vorgezogene Fälligkeit auf die Hälfte der Sozialbeiträge zu begrenzen. In ihrer Antwort schrieb Merkel, „eine unionsgeführte Bundesregierung hätte diesen Weg nicht beschritten“. Eine Möglichkeit, die getroffene Entscheidung zurückzunehmen oder in unserem Sinne zu modifizieren, sah sie aber nicht.

Bei einem weiteren Anliegen ging es  um einen von der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingebrachten Gesetzentwurf, mit dem die pharmazeutischen Unternehmen durch Preiszugeständnisse zugunsten der Krankenkassen (GKV)  mit circa 2 Mrd. Euro belastet werden sollten. Auch hier bat ich Angela Merkel, den Entwurf so zu ändern, dass mittelständische und forschende Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben konnten. In ihrer Antwort ließ sie mir mitteilen, dass man die geäußerten Bedenken nicht teilte. Der Gesetzentwurf würde dem medizinisch-technischen Fortschritt und der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung dienen. Damit war die Sache erledigt, zumindest für die Bundeskanzlerin. 

Als geradezu skandalös empfand ich auch die Art und Weise, wie Angela Merkel in der großen Koalition mit der auf dem Leipziger Parteitag versprochenen Gesundheitsreform umging. Die CDU hatte sich auf das Modell einer privaten Gesundheitsprämie festgelegt, um die Lohnkosten von den Krankheitskosten zu entkoppeln. Dagegen stand das SPD-Konzept der Bürgerversicherung, wonach das Gesundheitssystem durch einkommensabhängige Beiträge aller Bürger finanziert werden sollte. Jedem leuchtete ein, dass  man sich entweder für das eine oder das andere Konzept entscheiden musste. Ein vernünftiger Kompromiss dazwischen war nicht denkbar.

Angela Merkel (CDU) verständigte sich mit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) jedoch darauf, dass es bei der lohnabhängigen Beitragsfinanzierung  bleiben sollte, die Finanzierung der Gesundheitskosten aber über einen zentralen  Gesundheitsfonds des Bundes erfolgen sollte. Der Gesundheitsfonds sollte sämtliche Beiträge sowie die Bundeszuschüsse sammeln und an die Krankenkassen verteilen. Gleichzeitig übertrug man das Recht zur Beitragsfestsetzung von den Kassen auf den Deutschen Bundestag. Damit hatte der Bund die bis dahin selbständigen Kassen weitgehend entmachtet und sich die Verfügungsmacht über sämtliche Finanzmittel für das Gesundheitswesen verschafft.

Die angebliche Gesundheitsreform war keine Reform im Sinne der Leipziger Beschlüsse, sondern ein fauler Kompromiss in Richtung Staatsmedizin. Dies konnte die MIT unter keinem Gesichtspunkt akzeptieren.
 
Positionierung der MIT

Innerhalb der MIT bestand Einigkeit, dass wir gegen die Politik der großen Koalition öffentlich protestieren mussten, nachdem wir mit wichtigen Anliegen kein Gehör gefunden hatten. Der Protest richtete sich in erster Linie gegen die Union, mit deren Kurs in der großen Koalition wir nicht einverstanden waren.

Der Süddeutschen Zeitung (SZ) sagte ich damals, dass sich die Politik der großen Koalition unter dem Einfluss der von der SPD geführten „Reformministerien“ in die falsche Richtung bewegte. „Da können Sie durch nahezu alle Politikfelder gehen. Ob es um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes geht, die Forderung nach Mindestlöhnen oder die Rente. Überall richtet sich die Politik nach sozialen Aspekten und will lenkend eingreifen.“

Ich beklagte weiter, dass die CDU/CSU Gefahr liefen, zunehmend von ihrer noch im Wahlkampf vorgegeben Linie einer marktorientierten Reformpolitik abzuweichen. „Es hat sich die nach meiner Meinung falsche Einschätzung durchgesetzt, dass die Union im Wahlkampf zu wenig Wärme ausgestrahlt hat.“ Gleichzeitig betonte ich die Rolle von Angela Merkel: „Die Kanzlerin trägt natürlich als Parteivorsitzende die Verantwortung für die Richtung. Ich hoffe, dass die Formel ´Mehr Freiheit wagen´ aus ihrer Regierungserklärung sich tatsächlich wieder zu einem zentralen Begriff der CDU entwickelt. Im Moment geht die Partei in die Gegenrichtung.“

Dass solche Äußerungen der Parteiführung nicht gefielen, war voraus zu sehen. Schon bald erhielt ich einen Anruf  von Ronald Pofalla, dem Generalsekretär der CDU, der mir mitteilte, dass man kritische Äußerungen in der Sache verstehen könnte, aber Kritik an der Bundeskanzlerin missbilligte. Ich gab ihm zur Antwort, dass ich mit meiner Kritik nicht die Person der Kanzlerin, sondern ihre Politik in der großen Koalition treffen wollte. Wenn allerdings Kritik an der Sache gleichzeitig als Kritik an der Person der Kanzlerin gelten würde, so müsste sich die CDU als Partei fragen lassen, ob sie sich noch von der großen Koalition unterscheiden würde. Natürlich konnte ich auf eine solche Frage keine Antwort erwarten. 

Ich wusste aber aus einer vertraulichen Quelle, dass Kritik an Angela Merkel als Person generell nicht zugelassen werden sollte, weil man mit ihr die nächsten Wahlen gewinnen wollte. So wie es Volker Kauder auf dem kleinen Parteitag gesagt hatte, dass nach vier Jahren nur eine einzige Frage gestellt werden würde: „War Angela Merkel eine erfolgreiche Kanzlerin?“ Falls die Antwort dann „ja“ lautete, würde sie „die nächste Wahl gewinnen“. Hier lagen die Anfänge eines Personenkults um die Bundeskanzlerin, den ich schon deshalb ablehnte, weil er die offene Diskussion in der Partei behinderte.

Ich hielt mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg und sagte jedem, der es hören wollte, dass ich das Ansinnen, die Kanzlerin persönlich für ihre Politik nicht zu kritisieren, für falsch hielt. Daraufhin diskutierte der Fraktionsvorsitzende Volker  Kauder (MdB) innerhalb der Fraktion die Frage, ob ich weiterhin als MIT-Bundesvorsitzender geeignet sei. Als mir dies zu Ohren kam, bekam er von mir die öffentliche Antwort, dass ich im Jahr 2007 erneut für dieses Amt kandidieren wollte. Als dann auch noch der MIT-Bundesvorstand meine Entscheidung  einstimmig begrüßte, wusste Volker Kauder Bescheid, und die von ihm initiierte Diskussion hörte auf.

Natürlich habe ich mir damals die Frage vorgelegt, ob der Partei durch  kritische Verlautbarungen der MIT Schaden entstehen könnte. Zum Verständnis: Die MIT ist eine politische Vereinigung innerhalb der Union, die den Auftrag hat, für den Mittelstand und für die Soziale Marktwirtschaft als maßgebliche Wirtschaftsordnung zu werben und einzutreten. Aus diesem Grund steht ihr ein selbständiges Verlautbarungsrecht zu, das nicht auf parteiinterne Äußerungen beschränkt ist, sondern alle Formen öffentlicher Erklärungen miterfasst. Nicht zuletzt dadurch wirkt die MIT wie die Partei selbst an der politischen Willensbildung innerhalb der Gesellschaft und des Staates mit. Redeverbote passten dazu nach meiner Meinung nicht. 

Um das Verhältnis der MIT zur Partei zu klären, führte ich im April 2006 ein längeres Gespräch mit dem CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Er zeigte Verständnis zur Haltung der MIT gegenüber der großen Koalition und der Bundesregierung. Die MIT, der Parlamentskreis Mittelstand (PKM) und die Partei hätten in der Berliner Politik unterschiedliche Rollen zu spielen. Zur Kritik am Koalitionsvertrag äußerte er sich sogar positiv. Bei Problemen könnte ich ihn jederzeit anrufen.

In der Sache betonte Pofalla, dass die große Koalition Erfolge benötigte. Die Unternehmenssteuerreform müsste gelingen, auch ohne Steuersenkungen. Bis 2007 sollte es weniger als vier Millionen Arbeitslose geben. Für bestimmte Gruppen von Arbeitslosen sollten Kombilöhne eingeführt werden. Damit wäre ein allgemeiner Mindestlohn überflüssig, soweit nicht das Entsendegesetz greifen würde. Abschließend sagte Pofalla, dass man sich bereits auf das Ende der großen Koalition vorbereiten müsste.

„50 Jahre MIT“

Ende April 2006 feierte die MIT ihr fünfzigjähriges Gründungsjubiläum. Ihr Vorläufer war der beim CDU-Bundesparteitag in Stuttgart im Jahr 1956 gegründete „Bundesarbeitskreis Mittelstand der CDU/CSU“. Der MIT-Bundesvorstand beschloss, diesen Gründungsakt am 28./29. April 2006 auf dem exklusiven „Petersberg“ in Königswinter bei Bonn mit einem Kongress zu feiern. Um in Zeiten der großen Koalition ein Zeichen zu setzen, stellten wir den Kongress unter das Motto „Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft“. 

Der Kongress begann mit einem Stehempfang, dem ein Festessen folgte.  In meiner Begrüßungsrede wies ich darauf hin, dass wir an Ludwig Erhard erinnern wollten, der die Grundlagen für die Soziale Marktwirtschaft geschaffen hatte, ohne die es das „deutsche Wirtschaftswunder“ nicht gegeben hätte. „Dies ist ihm nicht in den Schoß gefallen, viele Widerstände galt es zu überwinden“, sagte ich. „Nach dem verlorenen Krieg setzten viele Wirtschaftsvertreter auf die Wiederherstellung großindustrieller Strukturen statt wie Erhard auf  Markt und Wettbewerb! Andere waren beseelt – auch in der CDU – vom christlichen Sozialismus, allerdings ohne genaue Vorstellungen zu haben, wie er aussehen könnte.“

Ich beendete die Begrüßung mit der rhetorischen Frage: „Was muss die MIT in dieser Lage tun?“ und gab dazu die folgende Antwort: „Als Bundesvorsitzender ist es mein Anliegen, dass die MIT in dem Spannungsfeld von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Verantwortung die ´wirtschaftliche Kompetenz´ herausstellt und sich als das marktwirtschaftliche Gewissen der Union sieht. Die Mitglieder der MIT, zwei Drittel sind nicht parteigebunden, spüren, dass wir dem Regierungspartner den Rücken stärken müssen. Wir tun dies sachlich, nie personenbezogen und schon gar nicht gegen irgendjemanden gerichtet. Wir geben denen Rückenstärkung, die marktwirtschaftlich denken und handeln.“
 
Der zweite Kongresstag startete ebenfalls mit einer längeren Begrüßung durch mich. Ich begann mit dem Hinweis, dass sich die MIT als Reformmotor und Kompass der großen Koalition verstünde. Deren Arbeit würde die MIT konstruktiv-kritisch begleiten und somit auch als das „marktwirtschaftliche Gewissen“ der Union auftreten. Mit dem Kongress „möchten wir einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, das marktwirtschaftliche Gedankengut von Ludwig Erhard mit neuen Leben zu erfüllen“. Denn in der politischen Praxis wäre dieses Gedankengut weitgehend verschollen und selbst in den Schulen in Vergessenheit geraten.

Ich zitierte dann, wie Ludwig Erhard die  Deutschen gesehen hatte: „So Erstaunliches das deutsche Volk mit letzter Hingabe geleistet hat, droht ihm mit zunehmendem Wohlstand und sozialer Sicherheit immer wieder das Gefühl für das rechte Maß, für Besinnung und Verantwortung verloren zu gehen.“  Ludwig Erhard habe schon früh erkannt, welche Gefahren der von ihm eingeführten marktwirtschaftlichen Ordnung drohten, sagte ich weiter: „ Es waren der ´Wohlstand für alle´  und die sich daraus ergebenden Folgen. Er warnte vor den Übertreibungen der Umverteilung und insbesondere vor dem Abgleiten in den Wohlfahrtsstaat. Erhard war kein Marktradikaler, sondern sehr wohl auf den sozialen Ausgleich bedacht. Er wollte aber solchen Menschen helfen, die wirklich bedürftig oder in Not waren.“ 

Danach führte Hans D. Barbier, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, unter der Überschrift „Auf den Spuren Ludwig-Erhards“ in das Thema des Kongresses ein. „Barbier, seit Jahrzehnten ein Sachwalter der freien Marktwirtschaft in Schrift und Wort, gab dem Festakt zum 50-jährigen Bestehen der CDU/CSU-Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung auf dem Petersberg nahe Bonn die rechte Würze, indem er gegen wohlfahrtsstaatliche Exzesse im Allgemeinen und die Mehrwertsteuer-Erhöhungspläne der Bundesregierung im Besonderen vom Leder zog“, hieß es tags darauf in der Rheinischen Post. Barbier ersparte den festlich Versammelten auch nicht, dass für diese Fehler nicht nur die SPD, sondern auch Christdemokraten verantwortlich waren. „CDU und CSU sind tief verstrickt in den Wettbewerb ums Verteilen. 90 Prozent unseres Elends kommen daher.“

Hans D. Barbier hatte seine beißend-kritische Rede noch nicht beendet, als Angela Merkel den Festsaal betrat. Sie verteidigte in ihrer Rede die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Barbier als den „moralischen und ökonomischen Tiefpunkt der deutschen Politik“ bezeichnet hatte, mit dem Hinweis auf die nötige Haushaltskonsolidierung. Sie sicherte zu, dass Unternehmenserben künftig von der Erbschaftssteuer befreit würden, wenn sie den Betrieb mindestens 10 Jahre fortführten. „Dass wir das zum 1. Januar 2007 hinkriegen, verspreche ich.“ Die geplante Unternehmenssteuerreform, durch die eine einheitliche Belastung von Kapital- und Personengesellschaften erreicht werden sollte, nannte Merkel „eines der wichtigsten Projekte der Bundesregierung“. Und zu dem in der großen Koalition umstrittenen Plan der SPD, gewerbliche Einkünfte in die sogenannte Reichensteuer einzubeziehen, sagte sie: „Es wird mit der CDU keine Reichensteuer geben, bei der die Wirtschaft belastet wird, das verspreche ich ihnen“.

Als Dank für ihren Auftritt bei der Jubiläumsfeier überreichte ich Merkel zwei besondere Geschenke: Apfelschnaps und zwei der Zigarren, „die Ludwig Erhard so sehr liebte“. Die gut aufgelegte Kanzlerin bedankte sich schlagfertig mit den Worten: „Manche Besucher im Kanzleramt fragen, ob noch die Zigarren von Schröder da sind. Jetzt habe ich was Besseres: die Zigarren von Erhard.“

Die Rolle des Unternehmers 

Ronald Pofalla  war vom CDU-Bundesvorstand beauftragt worden, für die Partei ein  neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten, das der CDU-Parteitag im Herbst 2007 verabschieden sollte. In unserem Gespräch bat er mich, in der  60-köpfigen Grundsatzprogrammkommission mitzuarbeiten und dort die Unterkommission „Verantwortung des Unternehmers“ zusammen mit Hans Jochen Henke, dem Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU, zu übernehmen. Ich sagte sofort zu.

Das letzte Grundsatzprogramm der CDU stammte aus dem Jahr 1994 und sollte gründlich überarbeitet werden. Die Leitfragen der mir anvertrauten Unterkommission lauteten: „Welche Verantwortung tragen Unternehmer und Unternehmen für unser Land? Was tut das Land für Unternehmer und Unternehmen?“ Die Antworten sollten bis Ende September 2006 vorliegen, um dann in der Grundsatzkommission diskutiert zu werden.

Feste Mitglieder der Unterkommission waren der Philosophieprofessor Karl Homann, der Wirtschaftsminister Ulrich Junghans, der CDU-Fraktionsvorsitzende Jürgen Scharf und der DEAG-Vorsitzende Peter Schwenkow. Außerdem wurden weitere Personen als Mitglieder kooptiert. 

Das endgültige Papier der Kommission, das Mitte 2007 verabschiedet wurde,  hatte folgenden Wortlaut:

„1. Wir bekennen uns zur Sozialen Marktwirtschaft als der für Deutschland einzig gültigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der Freiheit, Wettbewerb und der soziale Ausgleich miteinander in den bestmöglichen Einklang gebracht werden.

2. In der Sozialen Marktwirtschaft sind Unternehmer und Unternehmensführer eine tragende Säule unserer Bürgergesellschaft. Sie sind Garanten für Wohlstand und Fortschritt. Die Gesellschaft profitiert von Unternehmen, die produktiv arbeiten und Gewinne erzielen. Sie erfüllen unseren Bedarf an Gütern und Dienstleistungen, investieren in Forschung und technologischen Fortschritt und schaffen dadurch Arbeits- und Ausbildungsplätze. Durch Steuern und Abgaben tragen Unternehmer wesentlich zur Finanzierung der öffentlichen und sozialen Aufgaben bei.

3. Unternehmer müssen dauerhafte Gewinne erzielen, um ihren Zweck und ihre gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen zu können. Das Streben nach Gewinn ist aber kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Sicherung und Fortentwicklung des Unternehmens. Unternehmer, die sich einseitig an einer kurzfristigen Gewinnmaximierung orientieren, laufen Gefahr, ihrer umfassenden Verantwortung nicht gerecht zu werden.

4. Aufgabe des Staates ist es, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die Unternehmern ein freies, faires und gewinnbringendes Wirtschaften in Deutschland dauerhaft ermöglichen und die unseren Wirtschaftsstandort für Investoren und Kapitalanleger attraktiv machen. Wir wollen durch unsere Standortpolitik dazu beitragen, dass Unternehmer, darunter auch internationale Risikokapitalgeber, ihre Chancen in Deutschland wahrnehmen. Dort, wo die unternehmerische Freiheit durch Bürokratie, Überregulierung, Steuern und Abgaben über Gebühr eingeschränkt ist, müssen wir die Freiheit wiederherstellen.

5. Für uns ist Freiheit immer mit Verantwortung verbunden. Unternehmer, die die Freiheit in Anspruch nehmen, sind für ihr Handeln und dessen unmittelbare Folgen verantwortlich. Das gilt für den Umgang mit Mitarbeitern ebenso wie für die Außenbeziehungen zu Gesellschaftern, Kapitalanlegern, Kunden, Kreditinstituten, Geschäftspartnern, der Öffentlichkeit, dem Staat, den Kommunen, der Umwelt und den nachfolgenden Generationen.

6. Die Verantwortung der Unternehmer äußert sich auch in der verantwortungsvollen Unternehmensführung. Die Kultur eines Unternehmens trägt im Zeitalter der globalen Wissensgesellschaft zu dem Erfolg eines Unternehmens wesentlich bei. Sie ist Grundlage für ein partnerschaftliches Zusammenwirken im Unternehmen. Dabei ist besonders die innere Kultur zu pflegen und fortzuentwickeln. Hierzu gehört auch, jungen Menschen Ausbildungsplätze, Älteren berufliche Perspektiven und Eltern mit Kindern familienfreundliche Lösungen anzubieten sowie die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter zu ermöglichen.

7. So wie das Gemeinwesen auf erfolgreiche Unternehmer angewiesen ist, profitieren die Unternehmer von einem funktionierenden Gemeinwesen. Deshalb rufen wir die Unternehmer dazu auf, über ihre unmittelbare geschäftliche Tätigkeit hinaus zusätzliche  Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Dabei erkennen wir an, dass viele Unternehmer, gerade auch aus dem Mittelstand, diese Verantwortung bereits praktizieren. Wir verstehen das als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität.

8. Wir wissen, dass zur Sicherung und Fortentwicklung des Unternehmens die Verlagerung von Arbeitsplätzen an internationale Produktionsstandorte notwendig sein kann. So sehr wir die Nöte der getroffenen Mitarbeiter verstehen, halten wir es dennoch für falsch, solche betriebswirtschaftlichen Maßnahmen pauschal zu verurteilen. Wir erwarten aber von den Unternehmern, dass sie solche Entscheidungen verantwortungsvoll unter Berücksichtigung aller sozialen, gesellschaftlichen und politischen Folgen treffen, diese der Öffentlichkeit vermitteln und alles daran setzen, sich für die Interessen des Standortes Deutschland einzusetzen.

9. Im Zeitalter der Globalisierung können sich international tätige Unternehmer nationalen und europäischen Regelungen zunehmend entziehen. Dadurch erhalten sie einen Zugewinn an Freiheit, dem ein mehr an eigenständiger Verantwortung folgen muss. Wir rufen die Unternehmer dazu auf, diese Verantwortung auch auf internationaler Ebene wahrzunehmen. Wir halten es für entscheidend, dass sie im internationalen Bereich, dort wo gesetzliche Regelungen nicht greifen, kodifizierte Verhaltensregeln befolgen, sofern diese sachlich begründet, verhältnismäßig und fair sind. Internationale Kodizes wie z.B. der Global Compact der Vereinten Nationen oder die Richtlinien der OECD für global tätige Unternehmen sind eine geeignete Orientierung für verantwortliches Handeln.

10. Unternehmer sollten sich mehr denn je der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung ihres Handelns bewusst sein. Das von Augenmaß und praktischer Vernunft geprägte Bild gilt es zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die öffentliche Akzeptanz von Unternehmern ist für das zukünftige Zusammenwirken unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Dazu tragen die verbesserte Kommunikation unternehmerischer Entscheidungen sowie mehr Transparenz gegenüber den Kapitalanlegern  und der Öffentlichkeit bei. Vertrauensbildend wirken die freiwillige Übernahme gesetzlicher Verantwortung, die Bekämpfung von Korruption, die Selbstverpflichtung gegenüber moralischen Standards sowie die Berufung unabhängiger Aufsichtsräte. Auch die Politik trägt eine Verantwortung, die positive Wahrnehmung und Anerkennung der Unternehmer in Deutschland zu fördern.“


Mit dem Ergebnis unserer Arbeit war ich sehr zufrieden. Es war uns gelungen, in das Papier ein klares Bekenntnis zur unternehmerischen Freiheit aufzunehmen. Wir konnten uns auch damit durchsetzen, dass der Daseinszweck von Unternehmen nicht in der Schaffung von Arbeitsplätzen oder der Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben besteht, sondern in der Gewinnerzielung durch produktives Wirtschaften. Außerdem entschied sich der Ausschuss einstimmig bei der Unternehmensführung für das im Mittelstand vorherrschende Stakeholder-Prinzip und nicht für das Shareholder-Prinzip.

Eines der Zentralthemen in der Auseinandersetzung zwischen dem Sozial- und dem Wirtschaftsflügel der CDU war die Frage, wie viel gesellschaftliche Verantwortung man Unternehmern abverlangen soll. „Die Frage ist, ob wir eine DDR light haben wollen oder ein Unternehmerbild, wonach das Unternehmen seine ureigenen betriebswirtschaftlichen Interessen verfolgen kann“, sagte ich dem Handelsblatt. In der DDR wurde Sozial- und Wirtschaftspolitik als Einheit verstanden. Dem wollten wir das Bild des freien Unternehmers in einer marktwirtschaftlichen Ordnung gegenüberstellen. Dies war uns gelungen. 

Strittige Unternehmenssteuerreform

Dem Gespräch mit Pofalla folgte Mitte 2006 ein Vier-Augen-Gespräch mit der Bundeskanzlerin speziell zur Unternehmenssteuerreform, die Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart hatten. Das Gespräch diente Angela Merkel zur Vorbereitung des Koalitionsausschusses, der die Eckpunkte dafür festlegen wollte. 

Nach der Vorgabe des Koalitionsvertrages sollten „international wettbewerbsfähige Steuersätze realisiert“ werden, um den Standort Deutschland für Kapitalgesellschaften attraktiver zu machen. Dies bedeutete nach Auffassung von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), dass der Steuersatz für einbehaltene Gewinne 30 Prozent nicht übersteigen durfte. Bei einer Gewerbesteuerbelastung von etwa 15 Prozent (zugunsten der Kommunen)  musste der Satz für die Körperschaftssteuer demnach von 25 auf 15 Prozent abgesenkt werden.

Die Absenkung der Körperschaftssteuer sollte weitgehend „aufkommensneutral“ erfolgen, was bedeutete, dass Entlastungen beim Tarif durch Ausweitung der Bemessungsgrundlage auszugleichen waren. Die Koalition hatte sich auf ein Entlastungsvolumen von insgesamt 29 Mrd. Euro geeinigt, wovon rund 24 Mrd. Euro durch die Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlagen gegenfinanziert werden sollten. Hierbei dachte man an die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht und die Erweiterung der Besteuerungsgrundlagen um bestimmte Betriebsausgaben wie Zinsen, Pachten und Leasingraten.

Solche Pläne waren in der MIT und mittelständischen Wirtschaft auf erheblichen Widerstand gestoßen. Die Senkung der Körperschaftssteuer begünstigte nur die meist größeren Kapitalgesellschaften, während die mittelständischen Personengesellschaften durch die Maßnahmen der  Gegenfinanzierung zusätzlich belastet wurden. Darin sahen viele Steuersachverständige einen  eklatanten Verstoß gegen den Grundsatz der rechtsformneutralen Besteuerung. Außerdem hatte die Hinzurechnung von Zinsen, Pachten und Leasingraten zum steuerbaren Gewinn zur Folge, dass zukünftig Steuern nicht nur aus dem Gewinn, sondern auch aus der Substanz des Unternehmens gezahlt werden sollten. Die geplante Reform verstieß damit auch gegen das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit.

Zunächst glaubte ich, dass ein solcher Reformvorschlag nur aus einem Finanzministerium stammen konnte, das von einem SPD-Minister geleitet wurde. Zu meiner Überraschung musste ich dann aber feststellen, dass  der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) das Vorhaben nach Kräften unterstützte. Hierzu behauptete er, dass die großen Konzerne mit Hilfe von Zinsen und ähnlichen Ausgaben riesige Gewinne in Niedrigsteuerländer verschieben würden. Diesem Entzug von deutschem „Steuersubstrat“ müsste man mit der Unternehmenssteuerreform entgegen wirken.  

Der FDP-Finanzexperte Herrmann Otto Solms war empört: „Auch Kosten sollen besteuert werden. Damit wird das Steuersystem auf den Kopf gestellt. Grundlegende Prinzipien wie die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und das Nettoprinzip werden aufgehoben. Man fragt sich, ob Herr Koch allen ökonomischen Sachverstand verloren hat. … Es ist empörend, wie man sich um eines kurzfristigen haushaltspolitischen Vorteils willen über seit langem feststehende ökonomische und steuerpolitische Prinzipien hinwegsetzt.“

Koch und Steinbrück kannten sich aus den Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich. Was beide verband, war die fiskalische Denkungsart: Die Kasse des Staates musste stimmen. Innerhalb der Union hatte Roland Koch den abtrünnigen Friedrich Merz ersetzt. Doch die Steuerpolitiker der Union argwöhnten, dass er das Steuerthema nur nutzte, um in Berlin mit am Hebel der Macht zu sitzen: „Er wollte sich seine Option auf die Finanzpolitik sichern – mit lauter Fehlentscheidungen.“

Dies war vermutlich auch einer der Gründe, warum Angela Merkel mich am 26. Juni 2006 zu dem Gespräch ins Kanzleramt eingeladen hatte. Ich traf sie in ihrem Amtszimmer, in dem sie mich freundlich empfing, um über die Unternehmensreform zu sprechen. Erkennbar wollte sie das Reformvorhaben nicht nur generell, sondern auch im Detail verstehen.

Als wir längere Zeit über technische Einzelheiten der Besteuerung von Kapitalgesellschaften gesprochen hatten, entstand bei mir der Eindruck, dass sie sich damit überforderte. Ich erlaubte mir deshalb den vorsichtigen Hinweis, ob man solche Feinheiten nicht besser den Fachleuten überlassen sollte. Im Koalitionsausschuss würde es doch nur um Eckdaten und die große Linie gehen. Sie wollte es jedoch genau wissen und fragte weiter nach Details. Als wir uns dann schließlich – wiederum freundlich – verabschiedeten, stellte ich mir die Frage, ob und welchen politischen Nutzen sie aus dem Gespräch ziehen konnte.  

In der weiteren Diskussion um die Unternehmenssteuerreform konnten wir uns mit zwei wichtigen Punkten durchsetzen:  Die Idee,  dass die Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht einzubeziehen waren, wurde fallen gelassen. Außerdem erhielten die Personengesellschaften die Möglichkeit, für thesaurierte Gewinne eine steuerbegünstigte Rücklage zu bilden, um solche Unternehmen wirtschaftlich mit der steuerlichen Belastung von Kapitalgesellschaften gleichzustellen. Die Rechtsformneutralität war damit gewahrt, doch waren mit der Thesaurierungsrücklage nicht unerhebliche Bürokratiekosten verbunden.  

Die Bundesregierung ließ sich jedoch nicht davon abbringen, die steuerliche Abzugsfähigkeit bestimmter Betriebsausgaben wie Zinsen, Pachten und Leasingraten einzuschränken. Dazu kam es im CDU-Bundesvorstand zu einem Wortwechsel zwischen dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff  und dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch.

Koch lobte die mit der SPD erreichten Ergebnisse mit dem fiskalischen Argument, dass zukünftig mehr Unternehmenserträge in Deutschland versteuert würden. Dem Verschieben von Steuersubstrat durch Konzerne ins Ausland habe man einen Riegel vorgeschoben. Dies wäre der Kern der mit der SPD vereinbarten Unternehmenssteuerreform.

Demgegenüber kritisierte Christian Wulff an dem beschlossenen Eckpunktepapier, dass die Thesaurierungsrücklage für Personengesellschaften zu kompliziert wäre. Die  angestrebte Rechtsformneutralität wäre deshalb nicht gewahrt. Außerdem sah er die Hinzurechnungen zum Unternehmensgewinn als problematisch an, weil dadurch die Substanz  besteuert würde. Dies wäre angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, die durch hohe Arbeitslosigkeit geprägt würde, das falsche Signal. An dem Ergebnis der Unternehmenssteuerreform änderte diese Kritik aber nichts mehr.  

Hidden Agenda ?

Es war der "Spiegel", der in seiner Ausgabe 33/2006 den neuen Kurs von Angela Merkel folgendermaßen beschrieb: „Der Strategiewechsel vollzieht sich leise und heimlich. Angela Merkel will natürlich nicht, dass ihr Reformprogramm aus dem Wahlkampf unter großer öffentlicher Anteilnahme zu Grabe getragen wird, denn das wäre der Beleg ihres persönlichen Scheiterns. Die Koordinaten der CDU sollen unmerklich verschoben werden, mit Nebensätzen in Programmentwürfen und Andeutungen in Interviews, weshalb in der Fraktion schon das Wort von der Hidden Agenda die Runde macht.“

Dies galt nach Meinung des "Spiegels" auch für das neue Grundsatzprogramm der Partei, an dem Generalsekretär Ronald Pofalle mit einer großen Programmkommission arbeitete. Das Programm sollte keinesfalls, wie es offiziell hieß, der Profilschärfung der Partei dienen, sondern im Gegenteil „den Gencode der Partei umprogrammieren – von rechts nach links, er würde sagen: von traditionell auf modern.“ Dass dies den Abschied vom Leipziger Parteitag bedeutete, wollte man öffentlich nicht sagen. Stattdessen sprach Merkel auf dem Kongress zu Beginn der Programmarbeit davon, dass Leipzig eine „entscheidende Weggabelung der CDU“ gewesen wäre.

Für den vom "Spiegel" vermuteten Strategiewechsel gab es zahlreiche Hinweise. Generalsekretär Ronald Pofalla hatte in der FAZ vom 4. Januar 2005 unter der Überschrift „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ einen persönlichen Beitrag veröffentlicht. Darin forderte er zum Stichwort „Leistungsgerechtigkeit“, dass sich Reiche nicht arm rechnen dürften und Steuerschlupflöcher geschlossen werden müssten. Zum Thema „Familiengerechtigkeit“ äußerte der Generalsekretär die Ansicht, dass das traditionelle Familienbild mit dem Mann als Alleinverdiener nicht mehr der Lebenswirklichkeit entspräche. Den Frauen müssten Anreize für eine berufliche Tätigkeit gegeben werden,  wozu das Elterngeld diene.

Daneben gab es verschiedene Initiativen, die das soziale Profil der Partei schärfen sollten. Minister Karl-Josef Laumann (CDU) präsentierte unter dem Titel „Soziale Kapitalpartnerschaft“ ein Ergebnispapier der Arbeitsgruppe „Kapitalbildung von Arbeitnehmern“, mit dem unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien eine breite gesellschaftliche Debatte über die Vorteile der Mitarbeiterbeteiligung angestoßen werden sollte. Das Papier wurde Ende 2006 auf dem Parteitag in Dresden beschlossen und danach wieder vergessen.

Der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) warb für eine „Solidarisches Bürgergeld“: Der Staat sollte jedem Bürger ohne Vorbedingung lebenslang ein existenzsicherndes Grundeinkommen von 800 Euro zahlen. Dafür wären die bisherigen Sozialleistungen zu streichen. Auch in der bayerischen CSU erinnerten sich  Politiker an die christlich sozialen Wurzeln der Partei. Stoibers technokratischer Politikstil galt als überholt. Der CSU-Vordenker Alois Glück warnte vor dem schlanken Staat, der „keine ordnungspolitische Antwort“ sein könne. Er forderte „eine Kombination von Leistungskultur und Sozialkultur“, deren Ergebnis dann die „solidarische Leistungsgesellschaft“ sei. 

Gleichzeitig bemühten sich die Umweltpolitiker der CDU, die Union „grüner“ zu machen. Der Berliner CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger verlangte eine langfristige Abkehr der Union von der Atomkraft. „Es muss glasklar sein, dass aus Sicht der Union die erneuerbaren Energien die Zukunft darstellen“, sagte er. Es sei der falsche Weg, „neue Investitionen in alte Technologien einschließlich der Kernkraft zu stecken.“ Unterstützung erhielt er von der CDU-Arbeitsgruppe Umwelt, die vorschlug, den Anteil der Öko-Energien an der Stromerzeugung bis 2020 auf 35 Prozent zu steigern. „Ziel ist, dass die erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 den Hauptanteil an der Energiebereitstellung tragen“, hieß es in dem Ausschusspapier.

Angela Merkel, die von 1994 bis 1998 unter Kanzler Helmut Kohl Umweltministerin war, sah ebenfalls Handlungsbedarf für einen verstärkten Kampf gegen die Treibhausgase. Während ihrer EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 wollte sie den Klimaschutz deutlich voranbringen. Das Thema Umwelt wäre kein Vorrecht der Grünen, sagte sie in einem Interview zum Jahresbeginn 2007. „Wenn die Union dann dieses Thema mitunter nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt hat, so haben wir da doch viel aufgeholt.“ Zum Auftakt einer Konferenz zum Klimawandel in Washington betonte sie: „Ohne entschlossenes Handeln wird die Welt in Zukunft eine völlig andere sein.“

Für mich war erstaunlich, wie gelassen und einvernehmlich der Strategiewechsel in der Union durchgesetzt werden konnte. Es gab keinen offenen Protest – mit Ausnahme von der MIT. Offensichtlich hatte sich die Partei schon unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl innerlich von traditionellen Positionen verabschiedet und sich mehr und mehr dem links-liberalen „Zeitgeist“ angepasst. Dies nutzte Angela Merkel, um mit Hilfe des Regierungshandelns den Kurs der Partei zu verändern. Pragmatismus und Modernisierung hießen die maßgeblichen Stichworte.

An dem Image einer tatkräftigen Reformerin hielt Angela Merkel jedoch fest, um die Partei nicht zu verunsichern und den Wirtschaftsflügel der Partei ruhig zu halten. Sie vermied es auch, offen auf die Linie der Reformgegner einzuschwenken. In vertraulichen Gesprächen erweckte sie vielmehr den Eindruck,  dass sie Deutschland reformieren würde, wenn sie es nur könnte. In Wirtschaftskreisen hielt sich deshalb lange die Meinung, im Kern stehe Angela Merkel weiterhin zu ihrer wirtschaftsfreundlichen Reformagenda. Ich habe diesen Glauben nie geteilt, weil der politische Schwenk ihrem Machterhalt diente. Merkel hatte sich nach meinem Eindruck längst von der Reformpolitik verabschiedet.  „In der Führung gibt es niemanden, der noch für die Leipziger Beschlüsse eintritt“, sagte ich dem Spiegel. „Offiziell werden sie nicht aufgegeben, weil der Reformanspruch rhetorisch aufrechterhalten werden  muss. Das ist aber nur noch Fassade.“

So sah es auch Friedrich Merz, der Widersacher von Angela Merkel. Der Kurswechsel, schrieb er in der Wirtschaftswoche, geschehe „offensichtlich aus dem Kalkül heraus, dass die Zahl der Leistungsempfänger aus öffentlichen Kassen inzwischen größer ist als die Zahl der Arbeitnehmer, und deshalb größere Reformen an den Sozialsystemen schon wahlarithmetisch nicht mehr möglich sind.“

Dresdener CDU-Parteitag 

Jürgen Rüttgers, CDU-Vize und Ministerpräsident von NRW, forderte im Sommer 2006 angesichts schlechter Umfragewerte für die CDU, dass sich die Partei öffentlich zu einem Kurswechsel bekennen müsste. Die CDU sei keine kapitalistische Partei, sondern eine Wertegemeinschaft, sagte er. Kritik übte er insbesondere am Bundestagswahlkampf der Union. „Wir haben zu viel über flat tax und zu wenig über die Menschen geredet“. Es sei auch falsch zu glauben, dass „Steuersenkungen zu mehr Investitionen und damit zu mehr Arbeitsplätzen führen“. Gleiches gelte für die Behauptung, die Löhne und Renten in Deutschland seien zu hoch. „Wer das vertritt, weiß nicht, wie die Menschen hier leben.“ Er habe sich immer dafür eingesetzt, die soziale Gerechtigkeit nicht außer Acht zu lassen. „Nach dem ernüchternden Wahlergebnis hat sich das Gott sei Dank geändert.“

Der Streit über den wirtschaftspolitischen Kurs der Union eskalierte, als Jürgen Rüttgers im November 2006 auf dem Dresdener Parteitag der CDU den Antrag stellte, die Laufzeit des Arbeitslosengeldes (ALG I) an die Zahl der Beiträge zu koppeln. Damit wollte er die Bezugszeiten für ältere Arbeitnehmer verlängern und einen wichtigen Reformstein aus Schröders  Agenda 2010 herausbrechen. Mit diesem „Versuch, die SPD links zu überholen“, zwang er Angela Merkel eine von ihr nicht gewollte Debatte über den Kurs der Partei auf. Außerdem brachte er damit die Regie des Parteitages, auf dem sie sich als Bundeskanzlerin feiern lassen wollte, durcheinander.

Die meisten CDU-Ministerpräsidenten brachten sich gegenüber Rüttgers in Stellung und warnten Merkel vor einem Ruck nach links. „Die CDU ist keine Klassenpartei. Sie ist Partei für Arbeiter und Arbeitgeber“, sagte Christian Wulff als Antwort auf Rüttgers, der betont hatte, dass er „von Arbeitern gewählt wurde“. Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) warnte: „Ich glaube nicht, dass uns ein Linksruck bei Wahlen oder in Umfragen nach vorne bringt.“ Nur Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) wusste es besser: „Die CDU rückt nicht nach rechts oder links. Die Union wird mit dem Rückenwind des Parteitages einen Sprung nach vorne machen“, sagte er.

Um dem Antrag von Rüttgers auf dem Parteitag etwas entgegenzusetzen, stellte der baden-württembergische CDU-Landesverband den Antrag, den Kündigungsschutz bei Neueinstellungen zu flexibilisieren. Beide Anträge wurden im Vorfeld des Parteitages durch die Parteitagsregie miteinander gekoppelt, um den Streit in der Partei nicht nach Außen dringen zu lassen. Der Deal lautete: Längere Bezugszeiten für das Arbeitslosengeld I gegen mehr Flexibilität beim Kündigungsschutz.

Rüttgers bezog sich in seiner Rede vor dem Parteitag  auf den Mobiltelefonanbieter BenQ und die Demonstration der Arbeiter gegen die Schließung ihres Werkes: „Ich habe in die Augen dieser Menschen gesehen und habe gesehen, dass sie Angst hatten“. Und dann kam er auf seine Antragsidee zu sprechen: „Und deshalb find´ ich so wichtig, dass wir jetzt was tun.“ Günther Oettinger hielt Rüttgers entgegen, dass er einen Richtungsstreit angezettelt habe, „in dem die Angst im Mittelpunkt steht und nicht die Perspektiven und Hoffnungen“. Doch sozial sei, was Arbeit schaffe. So ähnlich war auch mein Redebeitrag auf dem Parteitag, mit dem ich Oettinger unterstütze. Angela Merkel positionierte sich nicht.

Beide Anträge wurden vom Parteitag der CDU mit großer Mehrheit angenommen, so dass die Parteiführung für die Umsetzung beider Beschlüsse durch die Bundesregierung sorgen musste. Zuständig innerhalb der Bundesregierung war das von einem SPD-Politiker geführte Arbeitsministerium, das die Beschlüsse jedoch unterschiedlich behandelte. Der Beschluß über die Flexibilisierung des Kündigungsschutzes verschwand dort sofort in der Schublade, während der Beschluss über die Verlängerung des ALG I dem Bundestag als gemeinsame Regierungsvorlage zur Beschlussfassung vorgelegt wurde.

Als ich von der unterschiedlichen Behandlung der Parteitagsbeschlüsse erfuhr, forderte ich von der Regierung, dass die Verlängerung des ALG I nicht ohne die Flexibilisierung des Kündigungsschutzes erfolgen dürfe. „Die Bundeskanzlerin muss den Doppelbeschluss des CDU-Parteitages einhalten. Wenn in der großen Koalition über die Reform des Arbeitslosengeldes gesprochen wird, muss gleichzeitig auch die Deregulierung des Arbeitsmarktes auf den Tisch kommen“, mahnte ich öffentlich. „Wer den zweiten Teil des Beschlusses vernachlässigt, treibt die Wirtschaftsliberalen aus der CDU.“  So kam es dann aber: das ALG wurde für ältere Arbeitnehmer verlängert. Am Kündigungsschutz änderte sich nichts.

„Rheinischer Merkur“

Norbert Blüm (CDU) veröffentlichte 2007 in der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ einen Essay zum deutschen Sozialstaat unter der Überschrift: „So retten wir die Solidarität“. Laut diesem Essay hatte Blüm zwei Feinde der Solidarität ausgemacht: einmal die Neoliberalen, die die Sozialpolitik angeblich rücksichtslos privatisieren wollten, und zum anderen die Sozialisten, die die totale Verstaatlichung anstrebten. Die Zukunft des deutschen Sozialstaates sah er deshalb im weiteren Ausbau der bestehenden Sozialsysteme mit Umlagefinanzierung, staatlich festgesetzten Leistungen und marginaler Selbstverwaltung. Nur so  könne die Solidarität gerettet werden. Konsequenterweise lehnte er die Riesterrente ab, in der er eine Privatisierung der Alterssicherung sah. 

Als der „Rheinische Merkur“ anfragte, ob ich zu dem Essay von Norbert Blüm eine Gegendarstellung veröffentlichen wollte, nahm ich dieses Angebot an.

In meiner Antwort stimmte ich Blüm zu, dass sich der Sozialstaat in einer Krise befand. Die Rettung sah ich aber nicht  in einem weiteren Ausbau der bestehenden Sozialsysteme, sondern in einer Revitalisierung des Prinzips der „Subsidiarität“: So viel Eigenverantwortung wie möglich, so viel solidarische Hilfe wie nötig! Papst Pius XI hatte dazu in der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ verkündet, dass „dasjenige, was der Einzelne aus eigener Initiative und mit eigene  Kraft leisten könne, ihm nicht entzogen und der Gesellschaft zugewiesen werden dürfe“.
 
Ich hielt Blüm entgegen, dass er das Prinzip der Subsidiarität in seinem Essay unbeachtet gelassen hatte -  offensichtlich, weil es auch im derzeitigen Sozialsystem keine Rolle mehr spielte. Nur noch zehn Prozent der Bürger sind privat versichert, die restlichen 90 Prozent sind in der gesetzlichen Versicherung. Damit ist die individuelle Eigenvorsorge zur Sache einer Minderheit geworden. Die überwiegende Mehrheit ist heute von staatlichen Sozialeinrichtungen abhängig.    

Ich führte aus, dass es bei Beachtung des Prinzips der Subsidiarität ein solches Ergebnis nicht gegeben hätte, weil dann folgende Reihenfolge gegolten hätte: Erst die  Eigenverantwortung, dann die gesellschaftliche Solidarität und schließlich die  Staatsfürsorge. Die Politiker hätten die Gewichte zwischen Eigenverantwortung und staatlich organisierter Solidarität  jedoch entscheidend verschoben. Seit den Siebzigerjahren herrsche die Einstellung vor, dass jede Ausdehnung des Sozialstaates als Fortschritt anzusehen ist -  mit der Folge einer Explosion der Sozialausgaben auf ein Drittel des Volkseinkommens. 

Ich wies Blüm auch auf den Geburtsfehler hin, der allen öffentlichen Sozialsystemen anhaftet: Die Ansprüche der Versicherten sind stets größer als die Bereitschaft und die Möglichkeiten der Beitragszahler, die dafür benötigten Mittel zur Verfügung zu stellen. Es ist deshalb eine Binsenweisheit, dass das Solidaritätsprinzip ohne staatlichen Zwang nicht überlebensfähig ist. Hierzu gibt es nur die Alternative der Subsidiarität, mit der die Eigenvorsorge gestärkt wird.

Mein Ergebnis lautete, dass der Sozialstaat inzwischen zum Wohlfahrtsstaat mutiert war, finanziert von der Wirtschaft als Melkkuh. Dadurch ist das  Subsidiaritätsprinzip auf den Kopf gestellt worden. Die Politik handelt heute nach dem Prinzip, dass der Staat alles leisten sollte, wozu er in der Lage ist. Nur dort wo der Staat überfordert ist, darf sich weiterhin Privatinitiative entfalten.

Norbert Blüm warf ich vor, als CDU-Sozialpolitiker intensiv daran mitgearbeitet zu haben, dass es zu einer solchen Pervertierung des Subsidiaritätsprinzips kommen konnte. 


 





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