EZB in der Falle
Noch nie war in der europäischen Geldordnung die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.
Artikel 105 Absatz 1 des EU-Vertrages legt wörtlich fest: „Das vorrangige Ziel der ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft.“ Diese, den §§ 3 und 12 des Bundesbankgesetzes nachgebildete, Bestimmung ist der Kernsatz des gesamten Vertrages. Damit akzeptierten alle Mitgliedstaaten vertraglich die deutsche Philosophie, dass die Geldpolitik in erster Linie auf die Preisstabilität verpflichtet ist und andere wirtschaftspolitische Ziele nachrangig verfolgen soll.
Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Seit dem Jahr 2007 betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) ohne Unterbrechung mit immer größeren Volumina eine Politik des leichten Geldes. Sie hat alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Geldschöpfung bis zum Anschlag genutzt: Der für die Finanzwirtschaft maßgebliche Leitzins ist auf 0,05 Prozent abgesenkt worden. Und im Rahmen ihrer Offenmarktpolitik kauft die EZB massenhaft Staatsanleihen und Wertpapiere an, so dass Liquidität im Überfluss vorhanden ist.
Angeblich dient diese Geldpolitik dem Ziel der Preisstabilität, worunter die EZB eine Inflationsrate (!) von 1,5 bis 2,0 Prozent versteht. Tatsächlich verfolgt die EZB mit der Politik des leichten Geldes jedoch vorrangig wirtschafts- und finanzpolitische Ziele: sie rettet Banken, finanziert Haushaltsdefizite und setzt Impulse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Die EZB übernimmt damit Aufgaben, die in die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft (EU) und ihrer Mitglieder fallen, aber dort nicht verantwortlich erledigt werden.
Der Weg ins Abseits
Die Kluft zwischen der mit dem Euro eingeführten Geldordnung und der real existierenden Geldpolitik der EZB entwickelte sich allmählich und wurde mit der Zeit immer größer.
Bankenkrise 2007:
Mit der Politik des leichten Geldes begann die EZB im Sommer 2007, also schon vor dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 (Lehman Brothers). Um notleidende Banken im südlichen Europa zu helfen, gab der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet ihnen nach eigenem Bekunden „so viel Geld, wie sie haben wollten, ohne Grenzen“. Mit diesem Schritt entlastete die EZB die EU-Mitgliedstaaten von der Aufgabe, ihre Banken zu sanieren und mit dem notwendigen Kapital auszustatten. Gleichzeitig übernahm sie damit Verantwortung für die Finanzmarktstabilität in der Euro-Zone, wozu sie nach den EU-Verträgen nicht legitimiert war.
Diese Kompetenzerweiterung erfolgte heimlich, nur einige Regierungschefs, wie beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel, wurden eingeweiht. Widerspruch von Seiten der EU oder der Mitgliedstaaten gab es nicht. Die Initiativen der Zentralbank fanden vielmehr ihre Zustimmung, weil sie damit von einer lästigen Aufgabe entlastet wurden.
Staatsschuldenkrise 2009/2010:
In der nachfolgenden Staatsschuldenkrise 2009/2010 war der EU-Gipfel vom 6./7. Mai 2010 ein entscheidender Wendpunkt für die Geldpolitik der EZB. Die südlichen Euro-Länder hatten sich vor der entscheidenden Sitzung unter der Führung von Frankreich dahin abgestimmt, dass zwei tragende Elemente der EU-Verträge außer Kraft gesetzt werden sollten: das gegenseitige Beistandsverbot („No-bail-out-Regel“) und das Verbot des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB („Verbot der monetären Staatsfinanzierung“).
Beides wurde auf diesem Gipfel mit deutscher Zustimmung beschlossen. Das Bail-Out-Verbot wurde mit dem Beschluss über die Einrichtung des Rettungsschirms EFSF faktisch beseitigt. Außerdem akzeptierte EZB-Präsident Jean-Claude Trichet die Forderung der Gipfelteilnehmer, die südlichen Krisenstaaten bei der Lösung der Staatsschuldenkrise durch den Ankauf von Staatsanleihen zu unterstützen. Schon einen Tag später veröffentlichte Trichet ein umfangreiches Ankaufsprogramm.
Dies war in zweifacher Hinsicht problematisch: mit dem gezielten Ankauf von Staatsanleihen notleidender Staaten wurde das Verbot der monetären Staatsfinanzierung ausgehebelt. Außerdem übernahm die EZB damit eine fiskalpolitische Sanierungsaufgabe, die zum Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten gehörte. Das Eingreifen der EZB wurde insbesondere damit begründet, dass den Krisenländern Zeit gegeben werden müsse, um ihre fiskal- und wirtschaftspolitischen Aufgeben zu erledigen.
Draghis Rede vom 26. Juli 2012:
Als die Risikozuschläge für Staatsanleihen der südlichen Euro-Länder im Laufe des Jahres 2012 wieder anstiegen, sagte der jetzige EZB-Präsident Mario Draghi am 26. Juli 2012 in der Londoner City: „Innerhalb ihres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir – es wird reichen.“ Der Satz war mit der französischen und deutschen Regierung abgestimmt, und die Akteure auf den Finanzmärkten verstanden ihn sofort: Mario Draghi werde zukünftig Staatsanleihen klammer Staaten in einem Umfang ankaufen, so dass die besonderen Risikozuschläge für die südlichen Euro-Länder wieder verschwinden würden. Dies war die „große Bazooka“, auf die man gewartet hatte.
Sechs Wochen nach seiner Rede stellte Mario Draghi das OMT-Programm vor, mit dem unbegrenzt Staatsanleihen von Euroländern gekauft werden konnten. Bedingung sollte sein, dass sich die Staaten einem Sanierungsprogramm der EU unterwarfen, die Anleihen eine Laufzeit von drei Jahren hatten und die Ankäufe auf dem Sekundärmarkt erfolgen konnten. Das Ankaufsprogramm ist jedoch nie umgesetzt worden. Schon seine Ankündigung reichte aus, um die Finanzmärkte zu beruhigen. Mario Draghi avancierte zum Superstar der Finanzmärkte.
Wirtschaftskrise in den südlichen Ländern:
Die EZB sieht sich nicht nur als Retter von unterkapitalisierten Banken und überschuldeten Staaten, sondern verfolgt auch das Ziel, mit Hilfe ihrer extrem lockeren Geldpolitik Impulse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu geben. Sie begründet diese wirtschaftspolitische Aufgabe mit der Schwäche der europäischen Wirtschaft und der Gefahr einer Deflation. Für die EZB ist es beunruhigend, dass die Inflationsrate bei nahezu null und damit unter dem Inflations-Ziel von zwei Prozent liegt, welches sie als Preisstabilität definiert.
Mit solchen Vorstellungen und Zielen beschloss der EZB-Rat am 22. Januar 2015 das sogenannte „Quantitative Easing“, kurz QE genannt. Der Beschluss sah vor, dass die EZB bis September 2016 von europäischen Banken monatlich für 60 Milliarden Euro Regierungsanleihen im Volumen von insgesamt 1.140 Milliarden Euro ankaufen durfte. Zweck des QE-Programms sollte es sein, die Kreditvergabe der Banken zu beleben, um dadurch Impulse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu schaffen.
Schon Anfang Dezember 2015 wurde das Ankaufsprogramm verlängert und auf insgesamt 1,8 Billionen Euro aufgestockt. Zudem beschloss der EZB-Rat am 10. März 2016 weitere Maßnahmen: Der Leitzins wurde auf null Prozent gesenkt, das Volumen der monatlichen Anleihekäufe auf 80 Milliarden erhöht und der Strafzins für Einlagen bei der EZB auf 0,4 Prozent festgesetzt. Außerdem wurde das Ankaufsprogramm auf Unternehmensanleihen erweitert, um den Unternehmenssektor (unter Umgehung der Banken) auch direkt finanzieren zu können.
Die selbst gestellte Falle
Die EZB hat sich mit ihrer Geldpolitik immer weiter von der vertraglichen Geldordnung entfernt. Dies hat im Bankensektor und in der Politik zu Verwerfungen geführt, die von der Führung der EZB unterschätzt worden sind. Außerdem hat sie keine Antwort auf die Frage, wie die ultra lockere Geldpolitik beendet werden kann, ohne die Wirtschaft erneut in eine große Krise zu stürzen.
Nicht profitables Kreditgeschäft:
Die EZB macht es den Banken mit ihrer Nullzinspolitik schwer, im Kreditgeschäft noch ausreichende Gewinne zu erzielen, ohne in´s Risiko zu gehen. Die Wertpapierkäufe der EZB drücken die Zinsspanne zwischen langfristigen Ausleihungen und kurzfristigen Verbindlichkeiten zur Refinanzierung; sie machen das klassische Kreditgeschäft dadurch unprofitabel. Dies betrifft vor allem Banken wie Sparklassen und Volksbanken, deren Gewinne hauptsächlich aus Zinsüberschüssen gespeist werden.
In vielen Bankbilanzen stecken Kreditrisiken, die eine Gefahr für die Finanzstabilität darstellen. Deshalb fordert die EZB als Bankenaufsichtsbehörde zu Recht, dass solche Banken ihr Eigenkapital aufstocken sollen. Das funktioniert aber nicht, weil die EZB ihnen mit der Niedrigzinspolitik die Möglichkeit der Gewinnerzielung genommen hat. Die EZB hat bisher nicht gesagt, wie sie diesen Konflikt zwischen Geldpolitik und Aufsichtspflicht lösen will.
Die Niedrigzinspolitik passt auch nicht zu dem Anspruch der EZB, der Wirtschaft mittels einer Kreditausweitung der Banken Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben. Denn die Banken haben ihr Interesse am Kreditgeschäft verloren, weil es wegen der Niedrigzinspolitik unprofitabel geworden ist. Die derzeit restriktive Haltung der Banken im Kreditgeschäft zeigt dies deutlich. Es ist deshalb ein Fehlschluss, wenn die EZB meint, über den Hebel niedriger Zinsen könne Wirtschaftswachstum geschaffen werden. Das Gegenteil ist der Fall.
Falsche Anreize:
Schuldner sind die eigentlichen Profiteure der Niedrigzinspolitik. Die höchsten Schulden haben die Staaten, die deshalb auch das größte Interesse an niedrigen Zinsen haben. Je höher die Schuldenlast, desto größer ist die Entlastung durch niedrige Zinsen. So kann nicht verwundern, dass die europäischen Regierungen mit der Politik der EZB einverstanden sind und sie nicht kritisieren.
Ein ähnliches Interessenbündnis besteht zwischen den Staaten und dem Bankensektor. Der Staat hat den Erwerb von Staatsanleihen durch Banken dadurch privilegiert, dass solche Papiere als (angeblich) risikolose Anlagen nicht mit Eigenkapital hinterlegt werden müssen. Dies macht den Erwerb von Staatsanleihen für Banken unabhängig von ihrer Eigenkapitalsituation interessant.
Aus dieser Interessenkonstellation hat sich inzwischen folgendes „Geschäftsmodell“ entwickelt: Die Banken nutzen die ihnen von der EZB überreichlich zur Verfügung gestellte Liquidität zum Kauf niedrig verzinslicher Staatsanleihen von Eurostaaten ohne Rücksicht auf deren Bonität. Im Unterschied zu anderen Investments muss dafür kein Eigenkapital hinterlegt werden. Es besteht auch kein Bonitätsrisiko, weil die EZB bereit steht, solche Papiere im Rahmen des QE-Programms käuflich zu erwerben. Macht die Bank von dieser Möglichkeit Gebrauch, wird die EZB direkt Gläubiger des Eurostaates, der die Anleihen ausgegeben hat. Dies ist die aktuelle Variante der an sich verbotenen „monetären Staatsfinanzierung“.
Es liegt auf der Hand, dass solche Finanzierungsmöglichkeiten falsche Anreize setzen. Wenn sich Staatsausgaben auf solche Weise über Staatsanleihen finanzieren lassen, gibt es für Politiker kaum Veranlassung, bei der Ausgabenplanung zurückhaltend zu sein und schmerzhafte Reformen zur Belebung der Wirtschaft auf den Weg zu bringen, damit die Steuern steigen. Politiker, die an der Macht bleiben wollen, handeln vielmehr vorgeblich klug, wenn sie statt Ausgabenkürzungen und Reformen Ausgaben mit Krediten finanzieren, um ihre Klientel damit zu bedienen.
Hier liegt die eigentliche Ursache für die ständig wachsende Staatsverschuldung und für den fehlenden Wirtschaftsaufschwung in den südlichen Eurostaaten. Die Haushalte werden nicht konsolidiert und Reformen nicht durchgeführt, weil die EZB es den Regierungen ermöglicht, mit Hilfe immer neuer Schulden Politik zu machen. Insofern trägt die EZB eine Mitschuld an der Situation in diesen Ländern.
Beendigung der Niedrigzinspolitik:
Der Ankauf von Staatsanleihen und die Niedrigzinspolitik wurde anfangs damit begründet, dass den Krisenländern Zeit gegeben werden müsse, um ihre Haushalts- und Wirtschaftsprobleme zu lösen. Diese Argumentation war von Anfang an unglaubwürdig, weil die Politik des billigen Geldes erkennbar zum Gegenteil führen musste. Umso dringender stellt sich die Frage, wann und wie die EZB aus dieser Politik aussteigen will.
Wie schwierig es für die EZB sein wird, die Nullzinspolitik zu beenden, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Immobilienfinanzierung von Banken: Hypothekenkredite werden durch die Nullzinspolitik begünstigt, weil sie traditionell als sicher angesehen werden. Dabei haben die Banken jedoch in erster Linie das Kreditrisiko im Auge, das als gering eingeschätzt wird, weil die Immobilie als Sicherheit dient. Dem Refinanzierungsrisiko, das die Bank bei langer Laufzeit der Kredite hat, wird demgegenüber meistens weniger Rechnung getragen. Es realisiert sich, wenn die Refinanzierung teuer wird oder wenn sie sogar ganz ausfällt, wie in der letzten Krise im Fall Hypo Real Estate (HRE).
Wenn die EZB ihre Nullzinspolitik beendet, werden Immobilienfinanzierer, die viele Hypotheken mit Zinsbindung über lange Laufzeiten ausgegeben haben, erhebliche Verluste erleiden. Das Risiko ist deshalb besonders groß, weil bei einem Zinssatz von null die Märkte nicht mehr normal reagieren. Schon geringe Zinserhöhungen können die Werte von Immobilien stark nach unterdrücken. Dies stellt schon heute eine von der EZB selbst geschaffene Gefahr für die Finanzstabilität dar. So warnte Claudia Buch, Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank, die Finanzbranche davor, die mit starken Renditeanstiegen verbundenen Risiken zu unterschätzen. "Im aktuellen makroökonomischen Umfeld besteht die Gefahr, dass Marktteilnehmer Risiken unterschätzen und nicht ausreichend berücksichtigen, dass die Preise fallen und Zinsen steigen können."
Resümee:
Mit ihrer lockeren Geldpolitik hat die EZB zwar Banken und Staaten vor dem finanziellen Zusammenbruch gerettet, gleichzeitig aber verhindert, dass notwendige Haushaltskonsolidierungen und Reformschritte durchgeführt wurden. Das Kreditgeschäft der Banken hat sie mit ihrer Nullzinspolitik weniger profitabel gemacht, so dass die Banken weder ihre Altlasten abbauen noch neues Eigenkapital aufbauen können. Schon dies ist eine große Gefahr für die Finanzstabilität. Diese Gefahr wird sich potenzieren, wenn die EZB ihre Nullzinspolitik beendet und die Zinsen anhebt, wie das Beispiel der Immobilienfinanzierung zeigt.
Am 26. Oktober 2017 sagte EZB-Präsident Mario Draghi. "Die Leitzinsen werden nicht verändert und wir gehen davon aus, dass sie noch für einen längeren Zeitraum auf dem aktuellen Niveau bleiben werden, und auch noch lange nach den Ende des Anleiheprogramms." Dies ist das Eingeständnis, dass der EZB-Präsident nicht weiß, wie die EZB gefahrlos aus der selbst gestellten Falle der Niedrigzinspolitik wieder herauskommt.