Merkels politische Sympathien
Angela Merkel (69) hat sich seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft aus dem Politikbetrieb weitgehend zurückgezogen. Aktuell schreibt sie an ihren Memoiren, die im Herbst 2024 erscheinen sollen. Auch Einladungen zu Vorträgen lehnt sie ab, weil sie laut Angaben ihres Büros „nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik grundsätzlich nicht an tagesaktuellen Ereignissen teilzunehmen“ will.
Die von Merkel praktizierte Abstinenz betrifft insbesondere die CDU, deren Vorsitzende sie jahrelang war und der sie das Kanzleramt zu verdanken hat. Sie besucht keine Bundesparteitage mehr und hat den Kontakt zur CDU vollständig abgebrochen. Von ihren Ämtern in der Konrad-Adenauer-Stiftung ist sie zurückgetreten. Den ihr angebotenen Ehrenvorsitz der CDU hat sie abgelehnt. Sie erschien auch nicht zur privaten Trauerfeier und Beerdigung von Wolfgang Schäuble in Offenbach.
Es sorgte deshalb für große Überraschung, als der „Spiegel“ berichtete, Angela Merkel werde auf Einladung der Grünen bei der Verabschiedung ihres Abgeordneten Jürgen Trittin (69) die Abschiedsrede halten. Was konnte Merkel zu dieser Entscheidung veranlasst haben?
CDU und Russlandpolitik
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine verneint und ist dafür u.a. von dem früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) kritisiert worden. Aus Schäubles Sicht haben alle Politiker den Fehler gemacht, die Bedrohung durch Wladimir Putin zu unterschätzen. "Wir wollten es nicht sehen. Das gilt für jeden." Er sei in diesem Punkt auch wütend auf sich selbst. Anzeichen für die Gefahr habe es nämlich gegeben.
So sieht es auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken: "Es war ein parteiübergreifender Fehler der deutschen Politik, die Entwicklung in Russland zu naiv zu beurteilen und die warnenden Stimmen aus Ost- und Mitteleuropa zu überhören. Wir hätten sehen können, was Putin vorhat, wir haben es aber alle nicht sehen wollen. Die günstigen Energiepreise haben uns für die Gefahren blind gemacht."
Für Wolfgang Schäuble ist es deshalb "bemerkenswert", dass Angela Merkel "auch jetzt in Bezug auf Russland nicht sagen kann, dass wir Fehler gemacht haben". Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sollte deshalb mit einer "selbstkritischen Reflektion" nicht länger warten - auch als Grundlage für eine neue Ost- und Russlandpolitik.
Der langjährige politische Berater der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Joachim Falenski, hat dazu in der FAZ vom 20. Februar 2023 eine wichtige Vorarbeit geleistet, auf der die nachfolgenden Ausführungen beruhen.
Die Ukraine und Merkel
Angela Merkel hat den russischen Angriff auf die Ukraine am 25 Februar 2022 in einer schriftlichen Erklärung scharf verurteilt. Eine Mitverantwortung für den Krieg hat sie verneint und gleichzeitig erklärt, keine weiteren öffentlichen Erklärungen zu ihrer Russlandpolitik abgeben zu wollen.
Die neue CDU-Spitze hat sich in der Debatte über eine Mitverantwortung von Angela Merkel für den russischen Angriff hinter ihre frühere Chefin gestellt. „Es wäre vermessen, zu behaupten, dass Angela Merkel eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine trifft. Es ist Putins Krieg gegen die Ukraine und der seiner Verbrecherclique im Kreml“, sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja gegenüber der DPA.
Demgegenüber hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier inzwischen Fehler im politischen Umgang mit Russland eingeräumt. "Wir sind gescheitert", sagte er in einem Gespräch mit Journalisten im Schloss Bellevue. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben. Auch sein Festhalten an Nord Stream 2 sei "eindeutig" ein Fehler gewesen.
Andere führende CDU-Mitglieder sind mit Merkels Schweigen nicht einverstanden. Johann Wadephul, Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, forderte in der Osnabrücker Zeitung, „dass Angela Merkel bald einmal Zeit und Anlass findet, sich vertieft zu ihrer Russlandpolitik zu äußern“. Er habe ihre Politik lange für richtig gehalten. „Meine Überzeugung war es, dass die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Deutschland auch für Russland handlungsbestimmend sein würde. Ich habe mich geirrt.“
Wahlanalyse der Bundestagswahl 2021
Bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag erlitt die CDU/CSU Rekordverluste und ist mit nur noch 24,1 Prozent (minus 8,9 Prozentpunkte) auf ein Allzeittief gefallen. Die SPD legte zu und wurde – als schwächster Wahlsieger bei Bundestagswahlen – mit 25,7 Prozent (plus 5,2) stärkste Partei. Die Grünen erzielten mit 14,8 Prozent (plus 5,8) ihr bislang bestes Ergebnis im Bund, die FDP verbesserte sich geringfügig auf 11,5 Prozent (plus 0,7), die AfD kam nach Verlusten auf 10,3 Prozent (minus 2,3). Die Linke rutschte mit 4,9 Prozent (minus 4,3) unter die Fünf-Prozent-Marke, wird aber nach dem Gewinn von drei Direktmandaten im nächsten Bundestag vertreten sein.
Die CDU-Spitze hat den Mitgliedern der CDU eine schonungslose Analyse der Bundestagswahl 2021 versprochen, aber bisher nicht geliefert. Stattdessen ist sie vollauf damit beschäftigt, unter Einbeziehung der Parteimitglieder die zukünftige Führung der Partei zu organisieren. Doch wie sollen die Mitglieder über Personen entscheiden, wenn sie die Gründe für das Wahldebakel nicht wirklich kennen.
Merkels politischer Weg
1954 – 1989
Aufgewachsen in einem evangelischen Pfarrhaus in der DDR; Mitglied der FDJ.
Mitarbeiterin an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften; während ihrer Zeit am ZIPC zeitweise als Kreisleitungsmitglied und 'Sekretärin für Agitation und Propaganda' bei der FDJ tätig - sie selbst spricht in diesem Zusammenhang von 'Kulturarbeit'.
Ende 1989
Fall der Mauer: Merkel engagiert sich beim Demokratischen Aufbruch (DA), einer ursprünglich links orientierten politischen Organisation. Aus dieser Zeit ist die Aussage verbürgt, dass sie mit der CDU nichts zu tun haben will.
April 1990
Unter dem letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière Vize-Regierungssprecherin
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"Angela Merkel denkt vom Ende her"?
Mit diesem Satz, der von Journalisten erfunden wurde, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Physikerin Angela Merkels als Bundeskanzlerin eine rationale und stringente Politik gemacht hat. Belegt wurde diese Aussage nie. Schaut man näher hin, stellte man sogar fest, dass ihre Politik im Gegenteil über weite Strecken widersprüchlich und unkoordiniert verlaufen ist. Das lässt sich an vielen Beispielen zeigen:
Ehrenschutz in den sozialen Medien?
Die sozialen Medien sind ein digitales Medium, das den Nutzern faktisch keine Grenzen setzt: Mitbürger können straflos beleidigt und verleumdet werden! Die Richtigkeit von behaupteten Fakten bleibt ungeprüft! Politiker werden verunglimpft und bedroht! Hass und Neid gegen ganze Bevölkerungsgruppen werden unkontrolliert verbreitet.
Den Nutzern steht dabei nahezu kostenlos eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Verfügung: Sie können eigene Inhalte senden, sie können aber auch fremde Inhalte kommentieren und beliebig weiterleiten (teilen). Was früher in kleinen Gruppen diskutiert wurde, erreicht heutzutage über Facebook, Twitter oder Instagram Tausende von Nutzern. Facebook allein wird täglich von mehr als eine Milliarden Menschen genutzt.
Die sozialen Medien wachsen und gedeihen durch die „Anonymität des Internets“, die enthemmt und vieles möglich macht. Die Masse an Persönlichkeitsverletzungen oder Erscheinungen wie Shitstorm oder Cybermobbing sind anders nicht zu erklären. Politiker, Unternehmen und Privatpersonen sind davon gleichermaßen betroffen.
Nun würde man denken, dass der Gesetzgeber oder die Gerichte alles tun, um den Betroffenen den erforderlichen Ehrenschutz zu gewähren. Leider ist das Gegenteil der Fall: Denn das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit solchem Treiben in den sozialen Medien Tür und Tor geöffnet. Einen wirksamen Ehrenschutz gibt es dort nicht mehr.
CDU ohne Führung
Seit Angela Merkel die CDU führt, hat die Partei Probleme mit ihrem konservativen Flügel. Die distanzierende Haltung der Parteispitze zur Werteunion ist dafür nur ein aktuelles Beispiel. Dies unterscheidet Merkel fundamental von früheren Vorsitzenden der Partei, die die Partei immer als eine Union liberaler, sozialer und konservativer Gruppierungen verstanden. Franz-Josef Strauß formulierte sogar den Grundsatz, dass es rechts von der CSU keine verfassungsmäßige politische Kraft mehr geben dürfe.
Von diesem Grundsatz haben sich CDU und CSU unter der Führung von Angela Merkel längst verabschiedet. Statt sich um die konservative Anhängerschaft zu kümmern, sucht man seit Jahren im links-liberalen Lager nach neuen Wählern. Das hat die Union für SPD und Grüne koalitionsfähig gemacht, aber gleichzeitig dazu geführt, dass konservative Mitglieder die AfD gründeten. Wohin das letztlich geführt hat, lässt sich an den Ereignissen in Thüringen nach der jüngsten Landtagswahl beobachten.
Ferguson über Trump und Merkel
Niall Ferguson ist Wirtschaftshistoriker, der in Harvard und Stanford gelehrt hat. Der gebürtige Schotte hat der Zeitung „DIE WELT“ am Rande des Wirtschaftsforums 2020 in Davos ein Interview gegeben, in dem er sich zur Wirtschaftspolitik von Donald Trump und Angela Merkel geäußert hat.
Ferguson lobte in dem Interview die Politik von Donald Trump, die dieser in Davos als „ein Model für die Welt“ dargestellt hatte. Während Europa diskutiere, ob überhaupt etwas getan werden könne, habe Trump mit einer großen Steuersenkung und mit einem Budgetdefizit von einer Billion Dollar für Wirtschaftswachstum gesorgt. Dies habe zu mehr Jobs und zu einem Beschäftigungsaufschwung bei Leuten mit geringer Qualifikation und niedrigen Gehältern geführt. „Amerika ist damit definitiv ein Modell für Europa. Und ganz besonders für Deutschlang“, meinte Ferguson.
Auf den Einwand, dass in Europa doch viel Geld für den Klimaschutz in die Hand genommen werde, sagte Ferguson: „Die Europäer haben sich eingeredet, dass sie einen Green Deal haben können und dass dann magischerweise das Wirtschaftswachstum steigt. Obwohl doch eindeutig ist, dass der Green Deal das Wirtschaftswachstum verringern wird.“ Denn Klimaschutz sei zwangsläufig mit steigenden Energiekosten und nachlassender Wettbewerbsfähigkeit verbunden. „Die Vorstellung, dass ausgerechnet der Green Deal das Wachstum fördern könnte, ist eine der seltsamsten Ideen, die es im Moment überhaupt gibt auf der Welt.“
Das Führungsdilemma der CDU
Der Parteitag in Leipzig
Auf dem Leipziger Parteitag der CDU Ende November 2019 erlebten die Delegierten eine Angela Merkel, die eigentlich nichts mehr zu tun hatte. Nachdem sie ihr Grußwort gehalten hatte, saß sie auf dem Podium, meldete sich aber nicht mehr zu Wort. Sie wirkte, als ob sie das eigentlich alles nichts mehr anging.
Auch in den Reden der Delegierten auf dem Parteitag kam Angela Merkel kaum noch vor. Auffällig im Vergleich zu früheren Parteitagen war, wie spärlich das Lob der Delegierten für ihre langjährige Vorsitzende war. Es gab sogar kritische Äußerungen über ihre Art, die Dinge nüchtern und ohne eine Vision anzugehen.
Die jetzige CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer vermied zwar die Konfrontation, sie machte aber immer wieder deutlich, was ihr an der Regierungspolitik nicht gefällt. Es war insbesondere die Sozialpolitik der vergangenen Merkel-Jahre, die sie infrage stellte. So kündigte Kramp-Karrenbauer an, die in der Ära Merkel stark angestiegenen Sozialleistungen auf den Prüfstand stellen zu wollen. „Der Sozialstaat kann nicht davon leben, dass wir immer mehr in ihn hineinschütten.“
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus war es dann, der das Führungsdefizit in der CDU thematisierte, allerdings ohne Merkel direkt zu kritisieren. „Wir müssen den Anspruch haben als Union, den Anspruch als Bundesregierung, dieses Land auch zu führen. Zu führen heißt erst mal, die richtigen Themen zu setzen, das sind Zukunftsthemen“, sagte er. Nach dem Parteitag müsse man die Entscheidung treffen, wie man die nächsten eineinhalb Jahre gestalten wolle. „Die möchte ich nicht damit gestalten, noch mehr umzuverteilen.“ Zukunftsfest müsse man das Land machen, nach vorne denken. Die CDU habe immer eine große Erzählung gehabt, eine solche müsse man wieder entwickeln.
Gesundheitsminister Jens Spahn ging noch einen Schritt weiter: Er lobte zwar die Leistung von Merkel, fügte aber hinzu: „Nun ist die Zeit für einen Aufbruch da. Unsere Partei muss wieder einmal laufen lernen.“ Dies war ein ziemlicher Affront, weil er damit auf den Beitrag in der FAZ Bezug nahm, mit dem Merkel den Rücktritt von Helmut Kohl eingefordert hatte. „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“ Jetzt ist Merkel selbst das alte Schlachtross, was Jens Spahn unmissverständlich zum Ausdruck brachte.
Der Protest der Bauern
Ende November 2019 rollten nach Schätzungen der Berliner Polizei rund 8600 Traktoren zum Brandenburger Tor, um gegen die Landwirtschaftspolitik der Bundesregierung zu protestieren. Aufgerufen zu der Protestfahrt hatte nicht der Bauernverband, sondern eine private Initiative von Landwirten, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert hatte und als "Land schafft Verbindung" auftritt.
Die Landwirte sind in Aufruhr, weil eine aus ihrer Sicht großstädtisch geprägte und auf Umweltschutz bedachte Politik ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet. „Wir deutschen Bauern produzieren zu den weltweit höchsten Standards und wir verwahren uns ausdrücklich gegen das negative Bild der Landwirtschaft, das immer wieder in der Öffentlichkeit gezeichnet wird“, heißt es seitens der Initiatoren.
"Das Agrarpaket von Klöckner und Schulze hat das Fass zum Überlaufen gebracht", sagte die Landwirtin Andrea Rahn-Farr aus der Wetterau. In Schutzgebieten, den sogenanten roten Flächen, sollen die Landwirte künftig keine Pestizide mehr ausbringen dürfen. "Das betrifft hier in der Wetterau rund 3500 Hektar." Selbst sei sie davon nicht betroffen, aber es gehe ihr um ihre Kollegen. "In den Schutzgebieten werden die Erträge sinken. Ohne Ausgleichszahlungen sei das eine Form der Enteignung, die wir uns nicht bieten lassen wollen", sagte Rahn-Farr.
Konkret geht es um das Agrarpaket, das die Bundsumweltministerin Svenja Schulze (SPD) zusammen mit der Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) Anfang September vorgestellt haben. Inzwischen stellen die Landwirte an die Bundesregierung aber die grundsätzliche Frage, ob es in Deutschland überhaupt noch eine existenzfähige Landwirtschaft geben soll. Die Initiative der Landwirte fordert dehalb nicht nur das Aussetzen des Agrarpakets, sondern besteht darauf, „dass gesellschaftliche Wünsche wie zum Beispiel Tierwohl, extensive Bewirtschaftung (und damit geringerer Ertrag und Gewinn), die Ausbreitung der Wölfe und Umweltschutzmaßnahmen finanziell von der Gesellschaft getragen werden".
Gespaltene CDU
Nach dem Desaster der CDU bei der Landtagswahl in Thüringen am 27. Oktober 2019 rechnete Friedrich Merz mit der Kanzlerin ab. „Das gesamte Erscheinungsbild der deutschen Bundesregierung ist einfach grottenschlecht“, sagte er in einem ZDF-Interview. Er habe bei vielen Veranstaltungen großen Unmut über CDU und SPD erlebt. „Ganz überwiegend steht die Bundeskanzlerin im Mittelpunkt der Kritik“, sagte Merz weiter. Er könnte sich nicht vorstellen, dass diese Art des Regierens bis zum Ende der Wahlperiode in zwei Jahren andauert.
Natürlich gab es Widerspruch aus der CDU-Führung: Eine vorzeitige Führungsdebatte würde der Partei nur schaden, hieß es in der CDU-Vorstandssitzung. Der CDU-Ministerpräsident Günther bezeichnete die Kritik von Merz als eine „Debatte, die von älteren Männern geführt wird, die vielleicht nicht ihre Karriereziele erreicht haben.“
Was an diesem Geplänkel deutlich wird, ist der Riss, der die CDU heute in zwei Lager spaltet. Der Riss ist grundsätzlicher Natur und geht bis ins Persönliche. Denn seit den Landtagswahlen in Ostdeutschland geht in der CDU die Angst um, dass die Partei noch weiter absinkt und damit im Bund den Anspruch auf das Kanzleramt verliert. Dies wäre für die CDU der Gau.
Angela Merkel hat für diesen Fall bereits vorgesorgt: Die große Koalition wird unter ihrer Kanzlerschaft bis zum Ende der Legislaturperiode weiter regieren. Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), die neue Vorsitzende der CDU, soll im nächsten Jahr zur Kanzlerkandidatin der CDU gekürt werden und den Wahlkampf 2021 führen.
Damit sind aber Friedrich Merz und seine Freunde keineswegs einverstanden: Sie halten AKK schon auf Grund ihrer schlechten Umfragewerte für die falsche Kandidatin. Außerdem sind sie der Meinung, dass die CDU in ihrem heutigen Zustand die Wahl verlieren wird. Sie fordern deshalb einen radikalen Kurswechsel und die baldige Festlegung auf einen geeigneten Kanzlerkandidaten, der natürlich Friedrich Merz heißen sollte.
Beide Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die jeweilige Stärke oder Schwäche ist nur schwer einzuschätzen. Vorerst geht es darum, die Truppen zu sammeln und sich für den endgültigen Schlagabtausch vorzubereiten. AKK hat dabei den Vorteil der Regierungsnähe. Die Stärken von Friedrich Merz sind seine Distanz zu Merkel und die größere Popularität. Der Nachteil beider ist die Lagerbildung, weil dadurch die Chancen von Kompromisskandidaten steigen.
Merkel zu Besuch in Harvard
Als der amerikanische Präsident Donald Trump im Frühjahr 2019 wegen des Migrationskonflikts mit Mexiko und des Handelsstreits mit China innenpolitisch erheblich unter Druck geriet, besuchte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel die Universität Harvard bei Boston. Man hatte sie eingeladen, um dort bei der zentralen Abschlussfeier für die Absolventen – Bachelors, Masters und Doktoren aller Fakultäten – die große Rede zu halten.
Der Besuch in Harvard war für Angela Merkel ein Heimspiel, das ihr laut Medienberichten Freude gemacht hat. Ihr wurde nicht nur die Ehrendoktorwürde verliehen, sondern sie war auch durch den Einmarsch der Graduierten in ihren Talaren, die Redebeiträge und das Singen der Hymnen beeindruckt. Als der Kanzler der Universität ihr die Urkunde überreichte und sie als „the scientist who became a world leader“ vorstellte, strahlte sie über das ganze Gesicht.
Die Historisierung von Angela Merkel hat bereits begonnen. Harvard war dafür kein zufällig ausgesuchter Ort. Das linksliberale Milieu auf dem Campus von Harvard verehrt Angela Merkel als Heldin und schämt sich für den eigenen Präsidenten Donald Trump.
Aufstand gegen die Metropolen
Die Nachkriegsära war für den Westen ein großer Erfolg: Unter der Führung der USA entstand eine Reihe von internationalen Organisationen und Allianzen, um das Vordringen des Kommunismus zu stoppen (NATO) und den Frieden zu sichern (UNO). Die nationalen Volkswirtschaften wurden liberalisiert, und international entstand ein effektives Handelssystem (WTO/GATT). Auf dieser Grundlage erfolgten der Wiederaufbau der Wirtschaft in Europa und der Prozess der europäischen Einigung (Montanunion, EWG). Die nationale Identität blieb dabei unangetastet.
Aber schon die nächste Generation von Politikern verlor das Gespür für die realen Möglichkeiten. Europäische und kosmopolitische Eliten verfolgten den Traum, dass das von ihnen verachtete Nationale mühelos in einem europäischen Bundesstaat („Idee einer immer engeren Union“) oder Weltstaat aufgehen könnte. Den Weg dahin sahen sie in der Abschaffung von nationalen Grenzen, in dem Zusammenwachsen der Märkte und in der Übertragung von immer mehr Macht auf internationale Institutionen.
Was die politischen Eliten dabei aus den Augen verloren, waren die Menschen, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr folgen wollen:
• Dazu gehören Menschen, die an ihrer nationalen Identität festhalten wollen.
• Darunter auch solche, die von der Globalisierung nicht profitieren, sondern zu ihren Verlierern gehören.
• Schließlich Menschen, die sich von supranationalen Institutionen nicht vertreten fühlen.
Viele dieser Menschen haben das Vertrauen in das westliche System verloren und wählen Politiker, die gegen Globalisierung und Supranationalität agitieren und das nationale Interesse ins Spiel bringen.
Merkels Abschied in Raten
Am 29. Oktober 2018, einem Montagmorgen, teilte Angela Merkel dem Präsidium und Bundesvorstand der CDU folgendes mit:
Erstens: Auf dem nächsten Bundesparteitag der CDU im Dezember in Hamburg werde ich nicht wieder für das Amt der Vorsitzenden der CDU Deutschland kandidieren.
Zweitens: Diese vierte Amtszeit ist meine letzte als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2021 werde ich nicht wieder als Kanzlerkandidatin der Union antreten.
Drittens: Für den Rest der Legislaturperiode bin ich bereit, weiter als Bundeskanzlerin zu arbeiten.
Die Ankündigung von Merkel, nicht mehr für das Amt der Vorsitzenden der CDU kandidieren zu wollen, kam für die Präsidiums- und Vorstandsmitglieder überraschend. Nur ihrer Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte sie kurz zuvor gesagt, dass sie nicht mehr für den Parteivorsitz kandidieren werde.
Der plötzlicher Rückzieher hatte einen Grund: Es gab konkrete Hinweis, dass Friedrich Merz (CDU) sich auf dem Parteitag der CDU mit Unterstützung von Wolfgang Schäuble für den Parteivorsitz bewerben wollte. Einem solchen Wettbewerb mit ihrem früheren Intimfeind wollte sich Merkel auf keinen Fall stellen.
Koalitionsverhandlungen 2018
Als Martin Schulz (SPD) am 7. Februar 2018 vor die Presse in Berlin trat, sprach er davon, dass der Koalitionsvertrag „in einem großen Maß sozialdemokratische Handschrift“ trägt. Diese Aussage war zureffend, wie eine Auswertung des unabhängigen Karlsruher Unternehmens „Thingsthinking“ inzwischen ergeben hat. Rund 70 Prozent im Koalitionspapier gehen auf das Parteiprogramm der SPD zurück. Nur 30 Prozent können der Union zugerechnet werden.
Nicht nur, dass die Sozialdemokraten viele ihrer Forderungen im Koalitionsvertrag durchsetzen konnten. Sie sicherten sich zudem drei wichtige Schlüsselministerien: neben dem Ministerium für Arbeit und Soziales auch das Außenministerium und das Finanzministerium. Die CSU erhält das wichtige Innenministerium. Für die CDU bleiben nur vergleichsweise unbedeutende Ressorts übrig: das Wirtschaftsministerium, das bei kaum einem Gesetz federführend ist; das Verteidigungsministerium, das mit vielen Problemen zu kämpfen hat; daneben ein paar Ministerien, die der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder als „Gedöns“ bezeichnet hat.
Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen ist deshalb in CDU-Kreisen auf Unverständnis und Proteste gestoßen
Aktuelle Sondierungsergebnisse
Bei den Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD einigten sich die Verhandlungspartner auf ein 28-seitiges Papier, das der Öffentlichkeit am 12. Januar 2018 vorgestellt wurde. Bevor formelle Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden können, müssen die Gremien der beteiligten Parteien das Papier genehmigen.
Die Ergebnisse der Sondierung lassen bereits erkennen, wie die zukünftige Politik der nächsten (nur noch kleinen) großen Koalition aussehen wird, wenn es zur Regierungsbildung kommt:
In der Europapolitik wird die Bundesregierung auf Treiben Frankreichs, der EU-Kommission und der SPD weitere Schritte in Richtung Transferunion gehen. In der Energiepolitik wird man zwar nach neuen Wegen suchen, aber schließlich wieder bei planwirtschaftlichen Maßnahmen landen. Denn solange Angela Merkel Kanzlerin ist, wird man an den unrealistiechen Klimazielen festhalten. In der Asylpolitik wird die Regierung versuchen, den Zuzug von Asylanten auf 200.000 Personen zu begrenzen.
In der Sozialpolitik werden beide Parteien versuchen, mit gezielten Wohltaten Wähler zurückzugewinnen. Die Finanzierung der zusätzlichen Leistungen erfolgt kurzfristig aus den Rücklagen und langfristig aus höheren Beiträgen und Steuern. Eine Unternehmenssteuerreform zur Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit wird es nicht geben. Von einer Aufhebung des Solidaritätszuschlag werden nur kleine und mittlere Einkommensbezieher profitieren.
Die Union - eine Partei mit Zukunft ?!
Die Bundestagswahl im September 2017 löste einen politischen Erdrutsch aus.
Die Union (CDU/CSU) verlor knapp neun Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Wahl und kam nur auf rund 33 Prozent der Stimmen. Damit fuhr sie ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1949 ein. Der SPD erging es nicht viel besser. Sie verlor rund 5 Prozentpunkte und erzielte nur noch 20,5 Prozent der Stimmen. Wenn Union und SPD demnächst eine neue Regierung bilden, werden sie also nur noch 53,5 aller abgegeben Stimmen repräsentieren. Dies wäre eine große Koalition der Verlierer.
AfD und FDP waren die Gewinner der Bundestagswahl 2017: Nachdem die AfD im Jahre 2013 knapp die Fünf-Prozent-Hürde verpasst hatte, wurde sie nun mit fast 13 Prozent der Zweitstimmen drittstärkste Kraft. Der FDP gelang es, mit fast 11 Prozent (+6,0 Punkte) als viertstärkste Partei in den Bundestag einzuziehen.
Was bedeutet dieses Wahlergebnis für die Union? Welche Fehler sind gemacht worden? Und was muss die Union tun, um stärkste politische Kraft zu bleiben? Darum geht es in diesem Artikel!
"Merkels Jamaika-Desaster"
Deutschland steht nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen vor unübersichtlichen Verhältnissen. Drei Szenarien sind denkbar: Erstens: Die Bildung einer großen Koalition mit der SPD. Zweitens: Eine Minderheitsregierung unter Führung von Angela Merkel. Drittens: Neuwahlen.
Kanzlerin Angela Merkel stürzt damit in die schwerste Krise ihrer bisherigen Amtszeit. Ihr Lieblingsprojekt einer Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und Liberalen ist gescheitert. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Deutlicher kann man sich von der Politik der Bundeskanzlerin nicht distanzieren.
Angela Merkel aus der Nähe
(In Anlehnung an Josef Schlarmann, Angela Merkel aus der Nähe, erschienen im Lau-Verlag 2017)
I
Bei der Bundestagswahl 2013 warb Angela Merkel für sich mit dem Satz: „Sie kennen mich!“ Sie gewann die Wahl – nicht zuletzt mit üppigen Wahlversprechen. Aber kannten die Wähler Angela Merkel wirklich? Wohl kaum! Denn die Bundeskanzlerin ist eine verschlossene Politikerin, die über ihr Privatleben nichts und über die eigentlichen Ziele ihrer Politik nur wenig preisgibt.
Die Öffentlichkeit hat jedoch ein festes Bild von der Bundeskanzlerin: Das Bild einer uneitlen und fleißigen Politikerin, die klug abwägt und auf die Verlass ist. Ihr Politikstil wird als „pragmatisch“ und „ergebnisorientiert“ beschrieben. Angeblich denkt Angela Merkel bei ihren Entscheidungen jeweils vom Ende her, was man ihr als Physikerin auch gern abnimmt. Deshalb sehen viele in ihr einen „Stabilitätsanker“ in unruhigen Zeiten. Dies erstaunt, weil die Bundesrepublik noch nie einen Regierungschef gehabt hat, der so flexibel und unberechenbar ist wie Angela Merkel.
Donald Trump und Angela Merkel
Angela Merkel hat dem Bundesvorstand der CDU in seiner Sitzung vom 20. November mitgeteilt, dass sie 2017 noch einmal als Kanzlerkandidatin antreten will. „Viele hätten wenig Verständnis, wenn ich jetzt den Dienst für Deutschland nicht mehr tun soll. In dieser Zeit habe ich gesagt, jetzt kannst du dich nicht vom Acker machen.“ Der Beifall der Vorstandsmitglieder war lang und laut. Dankesreden und Belobigungen der Spitzen der Partei folgten.
Auch über fehlendes Lob aus dem Ausland musste sich Angela Merkel nicht beklagen. Der scheidende US-Präsident Barack Obama rief der deutschen Öffentlichkeit zu: „Wenn ich Deutscher wäre und wählen dürfte, würde ich sie unterstützen.“ Und die „New York Times“ meinte nach der Wahl von Donald Trump, nun sei Angela Merkel „die letzte Verteidigerin des freien Westens“. Solche Stimmen aus dem demokratischen Lager zählen aber nur noch wenig, nachdem der amerikanische Wähler sich für eine andere Politik entschieden hat.
Das System Merkel
Spätestens mit der Flüchtlingskrise und den Wahlerfolgen der AfD ist Kritik am System Merkel salonfähig geworden. Niemand muss mehr befürchten, dafür geächtet oder parteiintern sanktioniert zu werden. Die Zahl der Kritiker innerhalb und außerhalb der Union ist zu groß geworden. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer bezeichnete die Willkommenspolitik von Angela Merkel öffentlich als einen „Fehler“, der korrigiert werden müsse. Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, kritisierte die Bundeskanzlerin wegen ihres Zickzackkurses in der Türkei-Politik.
Nach den Wahlerfolgen der AfD bei drei Landtagswahlen monierte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff das politische Programm der CDU: „Wir sind inhaltlich und personell viel zu schmal geworden. Wir müssen wieder breiter werden, um den rechten demokratischen Rand für uns zu reklamieren. Die vermeintliche politische Korrektheit aus Berlin macht die AfD nur stärker.“ Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach erklärte die Strategie, die AfD zu ignorieren und zu stigmatisieren, für gescheitert. „Es ist falsch, die AfD auszugrenzen, das verleiht ihr nur eine Art Märtyrerstatus und verschafft eher zusätzliche Sympathien“. Carsten Linnemann, Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU warf der Bundeskanzlerin sogar vor, mit ihrer Politik „die AfD erst stark gemacht“ zu haben.
Angela Merkel antwortete auf diese Kritik mit dem Satz: „Es gibt keine neue Strategie“. Sie will also weiter regieren wie bisher, womit sich die Frage stellt: Wie sieht ihre "alte" Strategie denn aus? Die folgenden Ausführungen sind der Versuch einer Antwort:
"Das Primat der Politik" (Angela Merkel)
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 ausgelöst wurde, war eine große Herausforderung für Banken und Unternehmen. Eine ebenso große Wirkung hatte sie auf die politische Stimmungslage. In den Medien deutete man dieses Ereignis als eine politische Zeitenwende. So schrieb Hans-Ulrich Jörges im STERN:
„Das ist ein Epochenbruch: das Scheitern der neoliberalen Verheißung, das Ende des Glaubens an den selbstregulierenden, klugen, lernfähigen, Wohlstand schaffenden Markt, der Untergang des Investmentbanking als Renditemaschine. Und die Rückkehr des Staates als Hüter des Gemeinwohls, als politischer Regisseur auf der Bühne der Globalisierung“.
Merkels Krisenmanagement im Konflikt mit dem "Recht"
Das öffentliche Bild von Angela Merkel ist ganz wesentlich durch die „Großen Krisen“ geprägt worden, mit denen sie in ihrer Regierungszeit konfrontiert wurde. Solche Krisen sind für Politiker im Allgemeinen eine „ideale Situation“ (Dirk Kurbjuweit). Denn sie schaffen eine Situation der Sorgen und Angst, die eine ganz andere Art von Politik möglich macht, frei von den Hemmnissen und Kalamitäten, die Politik sonst so schwerfällig machen. Der parteipolitische Streit tritt hinter die als notwendig erachteten Entscheidungen zurück, und die Medien nehmen sich meistens auch zurück. Krisen bieten deshalb die Chance, politische Führung und Handlungsfähigkeit zu zeigen. Zumindest muss die Regierung den Eindruck erwecken, sie habe „die Herrschaft über das Geschehen“ (Herfried Münkler).
Angela Merkel hat in ihrer Regierungszeit mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie die Möglichkeiten kennt, die politische Krisen bieten. Das positive Bild von Angela Merkel in der Öffentlichkeit ist dadurch entscheidend geprägt worden. Dabei wurden die Pannen und Fehler im Krisenmanagement gern übersehen. Man lobte sie wegen der schnellen Ergebnisse und vergaß darüber die langfristigen Folgen und Risiken. Selbst über Verstöße gegen Gesetze, Verträge und Ordnungsprinzipien ging man großzügig hinweg.
Die Verbindlichkeit des Rechts gilt jedoch auch für die Bundesregierung. Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes schreibt ausdrücklich vor, dass die „vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden“ ist. Dies gilt auch in Krisenzeiten. Das Motto „Not kennt kein Gebot“ ist keine Rechtfertigung für Verstöße gegen geltendes Recht.
Der politische Glücksindex
Wohin der „sanfte“ Paternalismus die Gesellschaft führen soll, erschließt sich aus dem Projekt der Bundeskanzlerin, den Begriff des „Wohlstandes“ neu zu definieren: „Wir brauchen als Bundesregierung auch noch einen anderen Ansatz, um die Vorstellung von Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger in Erfahrung zu bringen.“
Dies richtet sich gegen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maßstab für wirtschaftlichen und politischen Erfolg. Der Bundeskanzlerin schwebt vor, das BIP durch ein umfassendes Indikatorensystem zu ersetzen, an dem sich die Politik zukünftig orientieren soll.
Merkels "Mitte-Links"-Politik
Angela Merkel (CDU)hat als Bundeskanzlerin die Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Jahren 2005 bis 2013 entscheidend mitgeprägt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Beginn ihrer Kanzlerschaft, die Finanzreform im Gesundheitswesen, das Antidiskriminierungsgesetz und die Frauenquote, die Laufzeitverlängerung für das Arbeitslosengeld I, der gesetzliche Mindestlohn, die staatlichen Ausgabenprogramme in der Wirtschaftskrise, die Euro-Rettungspolitik, die Energiewende und die Rentenerhöhungen waren politische Entscheidungen, an denen sie maßgeblich beteiligt war und bei denen sie das letzte Wort hatte.
Wie muss man diese Politik einordnen? Angela Merkel selbst sieht sich in die Reihe großer CDU-Politiker gestellt, darunter auch Ludwig Erhard. Diese Selbsteinschätzung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen beiden Politikern grundsätzliche Unterschiede im politischen Denken und Handeln gibt.
Politischer Paternalismus
Der "politische Paternalismus" ist eine besondere Form der politischen Machtausübung und Lenkung. Von hartem Paternalismus spricht man, wenn der Staat zu Geboten oder Verboten greift, um das Verhalten seiner Staatsbürger zu beeinflussen. Solches Handeln unterliegt üblicherweise der parlamentarischen oder gerichtlichen Kontrolle. Demgegenüber bedient sich der sanfte Paternalismus sog. Schubser (engl. „nudge“), um das Verhalten von Menschen zu verändern. Hierbei handelt es sich regelmäßig um Handlungen der Regierung, die keiner rechtstaatlichen Kontrolle unterliegen.
Der sanfte Paternalismus wird gelegentlich auch als "liberaler Paternalismus" bezeichnet. Dies Bezeichnung ist jedoch irreführend, weil solche Schubser unterschiedlich stark wirken können: Von der subtilen Beeinflussung durch Argumente oder Warnhinweise bis hin zu finanziellen Vorteilen und Nachteilen. Insofern müssen sie in ihrer Wirkung den Geboten oder Verboten in keiner Weise nachstehen.
Der sanfte Paternalismus macht sich die Erkenntnisse der modernen Verhaltensökonomie zunutze. Den Grundstein dafür legten die Amerikaner Thaler/Sunstein mit ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Nudge“. „Es geht um einen völlig neuen politischen Ansatz. Man kann ohne Gesetze und Verordnungen seine Ziele erreichen“, schwärmte Wirtschaftsprofessor Cass Sunstein, einer der geistigen Väter dieser politischen Lenkungsmethode. Vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist Sunstein mit seinen Empfehlungen auf große Resonanz gestoßen. Barack Obama ließ sich im Wahlkampf 2008 von rund 30 Verhaltensökonomen ein Konzept für seine Kampagne ausarbeiten. Der britische Premierminister David Cameron installierte 2010 ein „Behavioral Insights Team“, das Vorschläge für eine solche Politik erarbeiten sollte.
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