Gespaltenes Europa
Europa befindet sich in einem kritischen Zustand. Die Europäische Union (EU) ist wirtschaftlich gespalten und politisch zerstritten. Zwischen Bürgern und der politischen Elite hat sich eine tiefe Kluft aufgetan. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht von einer „Polykrise“ und appelliert an den „Pioniergeist“ früherer Tage. Die EU gleicht jedoch immer mehr einem " Club nationaler Egoisten“.
Eine Ursache ist die ungelöste Eurokrise: Die Wirtschaft im Süden Europas stagniert und die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Außerdem steigt die Staatsverschuldung trotz europäischer Finanzhilfen immer weiter an. Davon profitieren vor allem europakritische Linksparteien, die mit der Ablehnung notwendiger Reformen und strikter Haushaltsführung für sich werben. Gleichzeitig wächst im Norden Europas der Widerstand gegen die dauerhaften Transfers in nord-südlicher Richtung, zum Nutzen der europaskeptischen Rechtsparteien in Europa. Die andauernde Eurokrise stärkt also die Zentrifugalkräfte in Europa sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums.
Ein zweiter Spaltpilz in Europa ist die aktuelle Flüchtlingskrise. Das Schengensystem der EU mit offenen Binnengrenzen und einer sicheren EU-Außengrenze ist unter dem Ansturm der Flüchtlinge aus Afrika und der Türkei zusammen gebrochen. Dies hat innerhalb der EU zu ganz unterschiedlichen Reaktionen geführt: Deutschland pflegt eine „Willkommenskultur“ und hält die Grenzen prinzipiell offen. Die osteuropäischen Länder lehnen die Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlich ab und sichern ihre Grenzen durch Kontrollen und Grenzschutzanlagen. Die EU-Kommission wiederum bemüht sich, die EU-Außengrenzen durch Vereinbarungen mit Drittstaaten (z.B. mit der Türkei) gegen illegale Übertritte zu schützen. Im Streit über den „richtigen Weg“ in der Flüchtlingspolitik haben sich mehrere Lager gebildet, die die Handlungsfähigkeit der EU gefährden. Profiteure sind wiederum die rechts- und linkspopulistischen Parteien in Europa.
Der endgültige Rettungsschirm (ESM)
Am 27. Oktober 2010 erklärte Angela Merkel im Deutschen Bundestag, dass der vorläufige Rettungsschirm (ESFS) planmäßig im Jahr 2013 auslaufen werden. Keine vier Wochen später galt dies schon nicht mehr. Denn in Brüssel hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass der ESFS durch einen dauerhaften Rettungsschirm mit deutlich erweiterten Kompetenzen ersetzt werden sollte. Hierzu beschloss der Europäische Rat am 25. März 2011 zu Artikel 136 AEU-Vertrag folgende Vertragsergänzung:
„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
Zweck dieser Vertragsergänzung war es, dem dauerhaften Rettungsschirm eine eindeutige Rechtsgrundlage zu geben, um den Kritikern des Rettungskurses den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Wachsende Staatsverschuldung in Südeuropa
In den ersten Jahren der Euro-Währungsunion floss viel Geld zu günstigen Bedingungen von Banken und institutionellen Anlegern aus Länder wie Deutschland und den Niederlanden in die südlichen EU-Ländern wie Portugal oder Griechenland. Dort wurden die Gelder unter anderem für Immobilienfinanzierungen und für den Erwerb von Staatsanleihen verwendet. Diese Geldtransfers sorgten in Südeuropa nicht nur für ein kräftiges Wirtschaftswachstum, sondern auch für eine starke Expansion des staatlichen Sektors. Die Zahl der Staatsbediensteten und Pensionäre wuchs ebenso wie die Höhe ihrer Gehälter und Pensionen. Zudem investierte der Staat großzügig in vielfach überdimensionierte Infrastrukturprojekte, vor allem in Autobahnen, Flugplätze und Ferienanlagen. Viele davon sind heute Investitionsruinen.
Die Exzesse der privaten und öffentlichen Verschuldung wurden durch regulatorische Fehlanreize begünstigt: Anleger und Banken verzichteten auf die üblichen Bonitätsprüfungen, weil Staatsanleihen schon „aufsichtsrechtlich“ als risikolose Papiere galten. Außerdem blieben die in den EU-Verträgen vorgesehenen Verschuldensregeln weitgehend wirkungslos. Die Folgen dieses kreditfinanzierten Expansionskurses lässt sich an der Entwicklung der Staatsschuldenquoten (Schulden in Relation zum BIP) ablesen: Sie stieg für Griechenland von 97 Prozent 2003 auf 179 Prozent 2013, für Spanien von 49 Prozent 2003 auf 92 Prozent 2013 und für Portugal von 57 Prozent 2003 auf 129 Prozent 2013. Die zulässige Obergrenze nach dem Maastricht-Vertrag (Stabilitätspakt) liegt bei 60 Prozent.
Kreditfinanziertes Wachstum in Südeuropa
Die Europäische Währungsunion funktionierte fast ein Jahrzehnt reibungslos. Die Euro-Skeptiker unter den Wirtschafts- und Finanzexperten schienen widerlegt. Die Inflation war niedrig, und die Europäische Zentralbank gewann zunehmend an Bedeutung und Vertrauen. Der Euro entwickelte sich zur zweitwichtigsten Reservewährung, und der europäische Finanzmarkt wuchs mehr und mehr zusammen. Es schien sich zu bewahrheiten, dass der Euro die Nachfolge der starken D-Mark angetreten hatte. Dementsprechend sanken die Zinsen in den südlichen Ländern Europas auf deutsches Niveau, was als zunehmende Konvergenz der Volkswirtschaften gedeutet wurde. Für die Politik gab es viel zu feiern, vor allem in Zeiten, in denen die jeweiligen Regierungschefs der Euro-Länder die EU-Ratspräsidentschaft inne hatten. Das heraufziehende Gewitter wollte niemand sehen.
Der kollektive Vertragsbruch
Am 7. Mai 2010 vollzog die Bundesregierung - nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit - eine grundsätzliche Kehrtwende der deutschen Europapolitik.
An diesem Tag erklärte sich Angela Merkel auf dem Euro-Gipfel der Staats- und Regierungschefs damit einverstanden, dass ein „Europäischer Rettungsschirm“ mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro geschaffen werden sollte. Zweck dieses Rettungsschirms sollte es sein, Euro-Staaten im Krisenfall bei der Lösung ihrer Finanzierungsprobleme zu helfen. Ebenfalls am 7. Mai 2010 trat der Deutsche Bundestag zusammen und beschloss das erste Hilfspaket für Griechenland in Höhe von 110 Mrd. Euro, um das Land vor einer Staatspleite zu retten. Einen Tag vorher, am 6. Mai 2010, hatte sich der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits darauf verständigt, dass die Bank Staatsanleihen von Krisenstaaten ankaufen sollte. Auch dazu erklärte Angela Merkel auf dem Gipfeltreffen „stillschweigend“ ihr Einverständnis.
Mit diesen Entscheidungen wurden zwei Grundregeln der Euro-Währungsordnung, nämlich das zwischenstaatliche „Beistandsverbot“ und das „Verbot der monetären Staatsfinanzierung“, faktisch außer Kraft gesetzt. Beide Regeln hatte Helmut Kohl bei den Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag im deutschen Interesse gegen den Widerstand Frankreichs und der Südländer durchsetzen können.
Europäische Integration
In Fragen der europäischen Integration und der Wirtschaftspolitik bestanden zwischen Deutschland und Frankreich in der Nachkriegszeit gravierende Unterschiede. Beide Länder standen zwar vor der gleichen Aufgabe: Sie mussten ihre kriegszerstörte Wirtschaft wiederaufbauen. Auf dem Weg dahin wählten sie aber verschiedene Wege. Deutschland entschied sich unter Ludwig Erhard für die „Soziale Marktwirtschaft“. Demgegenüber ging Frankreich mit der von Jean Monnet konzipierten „planification francaise“ den Weg der gelenkten Wirtschaft. Diese historischen Unterschiede wirken bis heute fort und prägen insbesondere die Vorstellungen der Deutschen und Franzosen über die europäische Integration.
Ludwig Erhard verstand unter Wirtschaftspolitik in erster Linie Ordnungspolitik, d.h. die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Beim Wiederaufbau setzte er auf die Dynamik freier Unternehmer und überließ die Steuerung der Wirtschaft weitgehend den Märkten. So viel Freiheit wie möglich, so viel Regulierung wie nötig, war das ungeschriebene Leitmotiv der Wirtschaftspolitik in Deutschland.
Demgegenüber standen der Staat und seine Gestaltungsmacht in Frankreich immer im Vordergrund der Wirtschaftspolitik. Es war deshalb selbstverständlich, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg nicht den Unternehmen und Märkten überlassen, sondern staatlich geplant wurde. Zweck der von Jean Monnet organisierten Wirtschaftsplanung war es, die französische Wirtschaft regional und branchenmäßig mit Hilfe eines „plan activ“ zu steuern. Tiefgreifender konnten die wirtschaftspolitischen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich nicht sein.
Schäubles Grexit-Papier
Am Morgen des 13. Juli 2015 meldete der belgische Ministerpräsident über Twitter: „Agreement“. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone hatten sich in einer Marathon-Sitzung über die Eckpunkte eines dritten Hilfspakets für Griechenland geeinigt. Der Deutsche Bundestag stimmte den Ergebnissen des Gipfeltreffens zu, so dass der Weg für konkrete Vertragsverhandlungen frei war. Voraussetzung für die Zustimmung des Bundestages war aber die Beteiligung des IWF an dem Hilfspaket für Griechenland.
Im Ergebnis verständigten sich die Euro-Länder darauf, dass der Rettungsfonds ESM den Griechen weitere Finanzhilfen über insgesamt 90 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wird, um den Staatskonkurs abzuwenden. Etwa 54 Milliarden Euro wurden benötigt, um die Tilgungs- und Zinsverpflichtungen gegenüber der EZB und dem IWF in den nächsten drei Jahren zu erfüllen. Hinzu kamen 25 Milliarden Euro, mit denen die griechischen Banken vor dem Zusammenbruch geschützt werden sollten. Mit weiteren 11 Milliarden Euro sollte der griechische Staat seine offenen Rechnungen, die Löhne und Renten bezahlen.
Merkels Verzicht auf die Euro-Regeln
Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 deutete wenig darauf hin, dass Griechenland zum nächsten Problemfall werden könnte. Auf das Land entfielen nur 2,0 Prozent der Wirtschaftsleistung Europas. Griechische Banken besaßen auch kaum Schrottpapiere aus den USA. Nur die Rating-Agenturen waren vorsichtiger. Anfang 2009 stuften sie das Land wegen steigender Staatsverschuldung und steigender Zinsen um eine Note auf A- herunter. Politischer Handlungsbedarf wurde daraus aber noch nicht abgeleitet.
Erst als der griechische Finanzminister im Oktober 2009 ein Haushaltsdefizit von 12 Prozent und mehr ankündigte, rückte Griechenland wieder auf die Tagesordnung. Es gab Warnungen aus Bankenkreisen. Die Rating-Agenturen setzten das Land auf die Note B herab. Hilfen für Griechenland waren aber weiterhin kein Thema. Wolfgang Schäuble erklärte der BILD: „Die Griechen haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Wir Deutschen können nicht für Griechenlands Probleme zahlen.“
Angela Merkel weigerte sich ebenfalls, Griechenland finanzielle Hilfe in Aussicht zu stellen. Als sie in einem ARD-Interview gefragt wurde, ob es Finanzhilfen für Griechenland geben wird, antwortete sie: "Das ist ausdrücklich nicht der Fall." Selbst die EZB wollte hart bleiben. EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark sagte noch Anfang 2010: „Die Märkte täuschen sich, wenn sie davon ausgehen, dass andere Mitgliedsstaaten in die Brieftasche greifen, um Griechenland zu helfen.
Das gescheiterte „Europrojekt“
Der Euro ist ein europäisches Projekt, mit dem in erster Linie politische Ziele verbunden waren. Frankreich wollte mit dem Euro die Dominanz der D-Mark beseitigen. Deutschland hatte das Ziel, mit einer einheitlichen Währung die europäische Integration unumkehrbar zu machen.
Wirtschaftliche Sachgesetzlichkeiten mussten hinter den politischen Zielen zurücktreten. Unbeachtet blieb die Kritik der Euroskeptiker, dass das Eurogebiet wegen fundamentaler gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und staatlicher Unterschiede in den Mitgliedsländern kein optimaler Währungsraum ist. Die Befürworter des Euro setzten sich auch über die Zweifel hinweg, dass die traditionellen Weichwährungsländer im Süden Europas durch die gemeinsame Währung zu einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik finden würden.
Die verfehlte Rettungsstrategie
Mit dem ESM haben die EU-Staaten einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus zur Finanzierung notleidender Staaten im Euro-Raum geschaffen. In dem dazu neu gefassten Artikel 136 Absatz 3 AEUV sind die Voraussetzungen für seine Aktivierung festgelgt worden. Danach darf der ESM nur tätig werden, "wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen".
Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben sich im Juli 2015 darauf verständigt, dass der ESM den Griechen weitere Finanzhilfen über insgesamt 90 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wird, um den Staatskonkurs abzuwenden. Hierzu wurde zwischen der sog. Troika (Vertreter der EU, EZB und IWF) und der griechischen Regierung ein „memorandum of understanding“ unterzeichnet, in dem die erforderlichen Auflagen für die Gewährung der Finanzhilfen festgelegt wurden.
Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die Finanzhilfen an Griechenland rechtlich zulässig, wirtschaftlich sinnvoll und politisch zweckmäßig sind.
Der politische Euro
Die Einführung des Euro war von Anfang an ein politisches Projekt, mit dem die Beteiligten unterschiedliche Ziele verbanden. Frankreich hatte nationale Ziele: Es ging es darum, die starke Deutsche Mark, die in Europa faktisch als Leitwährung fungierte, durch eine europäische Währung und die Deutsche Notenbank durch eine Europäischen Zentralbank (EZB) zu ersetzen. Damit sollte der verloren gegangene französische Einfluss auf die Geld- und Währungspolitik wieder hergestellt werden.
Demgegenüber verfolgte Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Einführung des Euro das Ziel, die europäische Integration mit Hilfe einer Währungsunion voranzutreiben und unumkehrbar machen. „Der Weg zur Europäischen Einheit ist unumkehrbar. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die ein Ausbrechen oder einen Rückfall in früheres nationalstaatliches Denken mit all seinen schlimmen Konsequenzen unmöglich macht“, sagte er im Dezember 1991 nach Abschluss der Verhandlungen in Maastricht über die Einführung des Euro. Sein Ziel war ein vereinigtes Europa, das man sich als einen europäischen Bundesstaat vorstellte. "Deshalb hatte ich keinen Zweifel daran, dass die Politische Union in allen Bereichen rasch an Substanz gewinnen und in einigen Jahren insgesamt in einem klaren Gemeinschaftsrahmen stehen würde", schrieb Helmut Kohl später in seinen Erinnerungen.