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Europäische Krisen : Die Herausforderung des liberalen Westens
20.06.2022 18:55 (633 x gelesen)

Die Herausforderung des liberalen Westens

Kalter Krieg

Wie der Westen dem russischen Expansionsdrang nach dem 2. Weltkrieg widerstehen konnte, hat der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan, der als Vater der Politik des Containments (Eindämmung) gilt, in seinen Erinnerungen eindrucksvoll beschrieben. Über die russische Politik schreibt er ganz generell: „Der Logik der Vernunft unzugänglich, ist die russische Führung der Logik der Macht in hohem Maße zugänglich.“

Kennans zentrale Aussage über Russland besteht darin, dass sein Imperialismus mit den Verhältnissen außerhalb Russlands wenig zu tun hat, sondern sich „im Großen und Ganzen aus elementaren innerrussischen Notwendigkeiten“ ergibt. Die russischen Herrscher hätten im Grunde alle gewusst, dass ihre Herrschaft veraltet war, so dass sie den Vergleich mit den westlichen Ländern nicht aushalten konnten. „Aus diesem Grunde haben sie immer vor fremder Durchdringung Furcht gehabt.“ In dieser Angst sieht Kennan die Ursache für den russischen Argwohn gegenüber dem Westen und den Hang des Kremls, auf militärische Stärke zu bauen. So erklärt er auch, warum die Außenwelt für die russische Führung „böse, feindselig und drohend ist“.

 

Und daran hat sich bis heute wenig verändert, schrieb Jacques Schuster vor einigen Jahren in der FAZ. Noch immer fühlen sich die Russen umzingelt und ihre Würde vom Westen mit Füßen getreten, trotz vielfältiger Bemühungen, Russland in die westliche Wertegemeinschaft einzubinden. Die russische Tradition, sich mal für bedroht und minderwertig, dann wieder für großartig und unbesiegbar zu halten, ist genauso ungebrochen wie die Leidenschaft, alles was in Russland schiefgeht, dem Westen anzulasten.

Russlands Innenpolitik sei darauf aus, das Prestige des Staates zu vermehren – und zwar durch „maximale Entwicklung der Streitkräfte; große Schaustellungen mit dem Zweck, Außenstehende zu beeindrucken; fortgesetzte Geheimniskrämerei in inneren Angelegenheiten, um Schwächen zu verbergen und Gegner im Unklaren zu lassen“, beschreibt Kennan die Politik des Kremls nach dem 2. Weltkrieg. Er fügt einen Satz hinzu, den er mit Blick auf Putin geschrieben haben könnte: „Wo es angezeigt und erfolgversprechend erscheint, wird man versuchen, die äußeren Grenzen der Sowjetmacht zu erweitern.“

Furcht vor Russland sollte der Westen trotz der damaligen Lage nicht haben, riet Kennan. Die russische Führung sei nicht auf Abenteuer aus. „Sie arbeitet nicht nach festgelegten Plänen. Sie geht keine unnötigen Risiken ein. Der Logik der Vernunft unzugänglich, ist sie der Logik der Macht in hohem Maße zugänglich. Daher kann sie sich ohne Weiteres zurückziehen, wenn sie irgendwo auf starken Widerstand stößt. Wenn also dem Gegner genügend Hilfsmittel zur Verfügung stehen und er die Bereitschaft zu erkennen gibt, sie auch einzusetzen, wird er das selten tun müssen.“

Kennan hielt die Russen, gemessen an der westlichen Welt, bei Weitem für schwächer. „Ob sie Erfolg haben, hängt also von dem Maß der Zusammenarbeit, Festigkeit und Kraft ab, das die westliche Welt aufbringen kann. Und das ist ein Faktor, den zu beeinflussen in unserer Macht steht.“

Nachkriegsordnung

Die westlichen Demokratien sind den Ratschlägen von George F. Kennan nach dem Zweiten Weltkrieg gefolgt und gründeten 1949 die NATO als gemeinsames Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion. Während Moskau seinen Einfluss im Ostblock auf Besatzungstruppen, Staatswirtschaft und kommunistische Herrschaft gründete, bot Washington den Ländern des Westens mit der „Pax Americana“ nicht nur militärischen Schutz, sondern auch offene Märkte und demokratische Verhältnisse.  

Die Eckpfeiler der westlichen Ordnung, die Washington nach 1945 etablierte, beruhen auf der Anerkennung des Existenzrechts anderer Staaten, auf dem Recht der Selbstbestimmung, auf dem weitgehenden Ausschluss von Gewalt als Instrument der Politik, auf der Achtung von Regeln und Beschlüssen, die unter Gleichberechtigten vereinbart wurden, auf der Bereitschaft, Konflikte durch Kompromisse zu lösen und auf gemeinsamen Institutionen und freiem Handel (Stephan Bierling und Gerlinde Groitl).

Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 löste sich auch der Ostblock auf. Die ehemaligen Satelliten Moskaus im Baltikum und in Mittel- und Osteuropa traten daraufhin dem westlichen Bündnissystem bei. Es versprach ihnen Freiheit, Souveränität und Wohlstand und damit alles, was sie im Zwangssystem des Kremls nie hatten.

Die Ereignisse von 1991 führten zu einer fundamentalen Änderung der politischen Weltordnung. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach vom „Ende der Geschichte“: Er vertrat die These, dass mit dem Zusammenbruch des Ostblocks die Spaltung zwischen dem freien Westen und dem kommunistischen Osten verschwunden wäre und dass sich Demokratie und Marktwirtschaft überall durchsetzen würden.

Anfangs schien es auch so, dass sich diese Vision erfüllen würde: Die mittel- und osteuropäischen sowie die baltischen Staaten demokratisierten sich und ersetzten die sozialistischen Planwirtschaften durch marktwirtschaftliche Systeme. In Russland schienen sich die von Gorbatschow auf den Weg gebrachten Reformen („Glasnost und Perestroika“) durchzusetzen. Deng Xiaoping führte in China die Marktwirtschaft ein. Der Arabische Frühling mobilisierte die demokratischen Kräfte in Nordafrika.

Mit der Demokratisierung nach innen öffneten sich die Länder auch nach außen, wodurch die Globalisierung der Wirtschaft einen kräftigen Schub erhielt. Es gab neue Handels- und Investitionsmöglichkeiten, und durch eine weltweite Arbeitsteilung entstanden erhebliche Produktivitätsgewinne. Dabei gab es Gewinner und Verlierer. Zu den Gewinnern zählten China, die baltischen, mittel- und osteuropäischen Länder; zu den Verlierern gehörte Russland.

Die Idee einer „regelbasierten und gewaltfreien liberalen Friedensordnung“ setzte sich in den westlichen Industriestaaten weitgehend durch. Der von Clausewitz formulierte Erfahrungssatz, dass „der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist“, geriet in Vergessenheit.   

Russland und China

Doch universell wurde die liberale Friedensordnung nicht, weil Russland und Peking sowie andere Staaten eigene Wege gingen.

Peking und Moskau übernahmen aus dem westlichen Ordnungsmodell nur solche Teile, die den wirtschaftlichen Wiederaufstieg ermöglichten. Sie öffneten ihre Märkte und nahmen an der Globalisierung der Wirtschaft teil, weil sie wussten, dass der Weg zu ökonomischer Stärke und Macht über Märkte und internationalen Handel führt. Beide bemühten sich um Auslandsinvestitionen und den Transfer von Wissen, beide strebten in die Welthandelsorganisation (WTO) – mit großem Erfolg. Innerhalb von zwanzig Jahren avancierte China so zum größten Warenexporteur und Russland zu einem der wichtigsten Energielieferanten der Welt.

Es schien, als ob Russland und China Teil der liberalen Ordnung würden. Viele Politiker und große Teile der Wirtschaft gaben sich dem Selbstbetrug hin, dass sich durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit auch das politische Regime in Russland und China ändern werde. Das aber wollten Moskau und Peking auf jeden Fall verhindern. Denn das Modell einer liberalen Demokratie bedroht durch seine schiere Existenz das Wesen des russischen und des chinesischen Herrschaftssystems: sowohl die Diktatur nach innen als auch die Dominanz nach außen. Tatsächlich sehen sich beide Regime schon lange in einem Abwehrkampf gegen die Ideen der liberalen Ordnung, vor allem gegen die Anerkennung unveräußerlicher Bürgerrechte gegenüber dem Staat, gegen das Selbstbestimmungsrecht der unterworfenen Völker und das Existenzrecht von Staaten untereinander.

Das staatskapitalistische China und die russische Oligarchenwirtschaft akzeptieren auch nicht den normativen Kern der Marktwirtschaft wie private Geschäftsbeziehungen ohne politische Einflussnahme, Vertragssicherheit und Chancengleichheit. Moskau und Peking reduzieren den Markt vielmehr auf seine Effizienz und unterwerfen die Ökonomie im Zweifel dem Primat der Politik. Wirtschaftlicher Erfolg dient der herrschenden Elite vor allem dazu, ihre Macht zu festigen und das Land für den unvermeidlichen Zusammenprall mit der liberalen Ordnung zu rüsten.

Bei allen Unterschieden zwischen dem russischen und dem chinesischen Regime ist nicht zu übersehen, dass beide Diktaturen gleichartige Ziele verfolgen: sie wollen vermeintliche Ungerechtigkeiten der Geschichte revidieren und ihren „legitimen“ Platz als globale Ordnungsmächte zurückerobern. Beide fürchten nichts mehr als das Virus der Freiheit, und sie verabscheuen die Schranken, die ihnen die liberale Ordnung mit ihren Normen, Institutionen und Verträgen auferlegt. Es ist kein Zufall, dass Moskau und Peking in den USA, dem Anker des westlichen Systems, ihren Hauptgegner sehen. Gelänge es, Washington und die Europäer zu spalten, hätten Russland und China das wichtigste Etappenziel ihres Kampfes gegen die liberale Ordnung erreicht.

Die von Francis Fukuyama prognostizierte Demokratisierung der Welt ist nicht eingetreten, sondern das Gegenteil davon. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in autokratischen Staaten, in denen eine einzelne regierende Person, der Diktator oder eine regierende Gruppe von Personen (z. B. Partei, Militärjunta, Familie) unbeschränkte Macht ausübt. Einer davon ist Russlands Präsident Wladimir Putin, den  US-Präsident Joe Biden als „mörderischen Diktator“, einen reinen Verbrecher, bezeichnete, der „einen unmoralischen Krieg gegen die Menschen in der Ukraine führt“.

Diktatoren führen gegen Demokratien Kriege, weil sie in ihnen eine Gefahr für ihr Herrschaftssystem sehen. Die Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Freiheit, wollen in politischen Angelegenheiten mitsprechen und suchen soziale Sicherheit. Demokratien können das bieten, Diktaturen nicht. Letztere fürchten deshalb, dass sie im Wettbewerb der Systeme unterliegen. Ihre Kriege sind meistens Präventivkriege zum Schutz ihres Herrschaftssystems.

Wladimir Putin ist der Prototyp des gewaltbereiten Tyrannen. Für ihn, der im Jahr 2000 russischer Präsident wurde, war das Ende der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Russland habe dadurch 40 Prozent seines historischen Gebiets verloren, darunter auch die Ukraine. Russland zählt sich deshalb zu den Verlierern der Ereignisse von 1991.

Für das Jahr 2021 beläuft sich die Wirtschaftsleistung (BIP) von Russland nur noch auf rund 1,4 Billionen Euro, das ist so viel, wie Belgien und die Niederlande zusammen erwirtschaften. Die Wirtschaftsleistung der 27- EU-Länder beträgt demgegenüber rund 14.4 Billionen Euro, ist also zehnmal so hoch wie die von Russland.

Seine historische Aufgabe sieht Putin nun darin, das alte „Russische Reich“ als Großmacht wiederherzustellen. Zur Nation der Russen zählt er die Großrussen, die Weißrussen und die Ukrainer als sogenannte «Kleinrussen». Weil er sein Ziel nur mit kriegerischen Mitteln durchsetzen kann, hat er aus seinem Land eine Diktatur gemacht und aufgerüstet, um Krieg führen zu können,

Der erste Krieg unter seiner Führung fand in Tschetschenien statt, das sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für unabhängig erklärt hatte.

Den zweiten Krieg führte Wladimir Putin 2008 gegen Georgien. Russische Soldaten besetzten die zu Georgien gehörenden Gebiete Südossetien und Abchasien.

Den dritten Krieg begann Putin im Februar 2014, als russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen das ukrainische Militär auf der Halbinsel Krim entwaffneten und die Krim besetzten.

Nach der Eroberung der Krim besetzten russische Soldaten den Donbass, das Steinkohle- und Industriegebiet im Osten der Ukraine. Diesen vierten Krieg weitete Russland am 24. Februar 2022 auf die ganze Ukraine aus.

Der amerikanische Präsident Joe Biden sprach angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine von einem „Wendepunkt in der Geschichte“. Biden bezog sich mit seiner Feststellung nicht nur auf Russland, sondern auch auf die wachsende Anzahl anderer gewaltbereiter Autokraten auf der Welt.  „Ich denke, wir befinden uns in einem echten Kampf zwischen Autokratien und Demokratien und der Frage, ob Demokratien erhalten werden können oder nicht“, sagte er.

Deutsche Russlandpolitik

Der deutschen Russlandpolitik wurde mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 der Boden unter den Füßen weggezogen. Bis dahin galt die politische Doktrin, dass wirtschaftliche Beziehungen zu Russland und insbesondere der Bezug von russischem Öl und Gas das Land an den Westen heranführen und demokratisieren würde („Wandel durch Handel“). Außerdem unterstellten sowohl die Schröder-Regierung als auch die Merkel-Regierung, dass das Putin-Regime den normativen Kern der Marktwirtschaft wie private Geschäftsbeziehungen ohne politische Einflussnahme, Vertragssicherheit und Chancengleichheit anerkennen würde. Hinsichtlich des russischen Einfalls in die Ukraine glaubte man, dass dieses Problem nach den Regeln des Völkerrechts auf diplomatischem Wege gelöst werden könnte. Alle Annahmen und Glaubenssätze haben sich als falsch herausgestellt.

Die diplomatischen Bemühungen im Rahmen des Minsker Abkommens wurden von Angela Merkel selbst dann noch fortgeführt, als sie längst gescheitert waren. Das lief so: Merkel sprach zuerst mit dem ukrainischen Präsidenten, dann mit dem französischen Präsidenten. Danach telefonierte sie mit Putin, der schon seit 2015 mit dem ukrainischen Präsidenten nicht mehr gesprochen hatte. Die Ukrainer wollten über eine grundsätzliche Lösung verhandeln, Merkel wollte aber viele kleine Lösungen für viele kleine Probleme und redete über die Details. So gelang es ihr, den Konflikt einzufrieren, aber die große Lösung blieb aus. Die Verhandlungen waren eigentlich seit Jahren tot, Merkel hielt sie aber künstlich am Leben, weil sie das Eingeständnis fürchtete, sich in Putin geirrt zu haben und gescheitert zu sein.

Das Eingeständnis holte Frank-Walter Steinmeier nach, indem er öffentlich zugab, dass die Bundesregierung mit ihrer Politik gegenüber Russland gescheitert ist: „Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.“

Auch das Festhalten an der Pipeline Nord Stream 2, die Merkel als privatwirtschaftliches Projekt bezeichnete, nannte Steinmeier einen „eindeutigen“ Fehler der Bundesregierung.  Die Verträge für Nord Stream 2 wurden erst nach der Besetzung der ukrainischen Krim abgeschlossen. Deutlicher konnte man Moskau nicht signalisieren, dass Deutschland russisches Gas beziehen wollte, unabhängig davon, was Putin mit der Ukraine machen würde.

Kein anderes europäisches Land hat sich aus freien Stücken in eine so weitgehende energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland begeben wie Deutschland. Knapp 55 Prozent unseres Gasverbrauchs, ein Drittel des Öls und rund die Hälfte der verfeuerten Steinkohle stammen aus Putins Reich. Die mit dieser Abhängigkeit verbundenen Gefahren wurden ausgeblendet. Die „strategische Energiepartnerschaft“ mit Russland war ein Grundpfeiler der deutschen Energiepolitik der Merkel-Jahre. Damit sollte die Energielücke aufgefangen werden, die sich nach dem Atom- und Kohleausstieg zwangsläufig ergibt. Auch insoweit ist Merkel mit ihrer Politik gescheitert.

Angesichts der russischen Rüstungs- und Kriegspolitik lag es im nationalen Interesse, die Wehrfähigkeit zu stärken. Stattdessen wurde in der Zeit der Merkel-Regierungen die Bundeswehr abgerüstet und der geschuldete NATO-Beitrag nur teilweise geleistet. Wer den Frieden will, muss sich auf den Krieg vorbereiten, („si vis pacem para bellum“), wussten schon die alten Römer. Dass der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, am Morgen des russischen Überfalls auf die Ukraine zur Bitte nach militärischer Hilfe bekennen musste, „…die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank dar,“ beschreibt das Ausmaß des politischen Versagens.   


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