top-schriftzug
blockHeaderEditIcon

Dr. Schlarmann - Mittelstand

aktuelle Informationen für den Mittelstand
block-foto-dr-schlarmann-mittelstand
blockHeaderEditIcon
Europäische Krisen : Zentrifugalkräfte in Europa
18.12.2017 20:53 (1635 x gelesen)

Zentrifugalkräfte in Europa

Wenn richtig wäre, dass Europa vor allem in Krisen näher zusammenrückt, dann hätte die Europäische Union (EU) gestärkt aus der Eurokrise und Flüchtlingskrise hervorgehen müssen. Genau das Gegenteil ist aber eingetreten: In diesen Krisen sind die Mitgliedsländer immer mehr auseinander gerückt und die Union hat sich gespalten.

Die Spaltung ist eine doppelte: Der Euro hat die EU in einen schwachen Süden und starken Norden geteilt. Das hinter der Flüchtlingskrise stehende Schengensystem trennt den Osten vom Westen. Die Spaltung ist nicht exogener Natur, sondern hat endogene Ursachen, das heißt, sie ist selbstgemacht. Sie kann deshalb auch nur mit eigenen Anstrengungen überwunden werden.

Eurokrise:

Seit dem Beginn der siebziger Jahre wurde die Deutsche Mark de facto zur europäischen Leitwährung, während der französische Franc und die italienische Lira kontinuierlich an Wert verloren. Mit einer europäischen Währungsunion sollte dies nach dem Willen der von dem Franzosen Jacques Delors geleiteten Kommission geändert werden. Dabei wurde jedoch ein zentraler Denkfehler gemacht: Bei einer gemeinsamen Währung können unterschiedliche Entwicklungen in der Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Volkswirtschaften nicht mehr durch Wechselkursänderungen ausgeglichen werden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sich vielmehr die Löhne, Preise und die Produktivität anpassen, was aber meistens nicht geschieht. Wirtschaftliche Stagnation, Arbeitslosigkeit und Steuerausfälle in den weniger wettbewerbsfähigen Regionen der Währungsunion sind dann die Folge.

Exakt das ist in der Europäischen Währungsunion passiert: Ihre südlichen Teile sind zu einer stagnierenden Region geworden, die den Wachstumseinbruch der Jahre 2008/2009 bis heute nicht aufgeholt haben. Als Reaktion auf die Krise warfen die beteiligten Länder als erstes die Sicherungen des Maastricht- Vertrages - kein Bail-Out für öffentliche Haushalte und keine Staatsfinanzierung durch die EZB – über Bord. Stattdessen wurde mit dem ESM ein solidarisches Sicherungssystem für die Rettung von Staaten installiert. Außerdem wurde die EZB ermuntert, mit ihrer Geldpolitik die Regierungen  und Banken in den Krisenländern ausreichend mit Geld zu versorgen.

Die gemeinschaftlichen Bemühungen haben die wirtschaftliche Stagnation in den südlichen Krisenländern jedoch nicht aufhalten können. Deren Bestreben geht dahin, unter dem Motto der „europäischen Solidarität“ dauerhafte Finanzierungsströme vom Norden in den Süden zu etablieren. Die mit den  finanziellen Hilfen verbundenen  Sanierungs- und Reformauflagen werden in den Südstaaten  als deutsches Diktat wahrgenommen und kritisiert. „Solche Handlungszwänge der gemeinsamen Währung haben Europa nicht zusammengeführt, sondern wirken eher als moralischer Spaltpilz“, schreibt Thilo Sarrazin in der FAZ vom 7. März 2016. „Im Norden will man nicht für die Fehler im Süden zahlen, und im Süden hasst man den geizigen und reichen Onkel aus dem Norden, der sich mit kleinlichen Vorschriften in die unbeschwerte südliche Lebensart einmischt.“

Italien:

Ein gutes Beispiel für einen solchen Krisenzustand ist Italien, nach Deutschland und Frankreich die drittgrößte Volkswirtschaft des Eurogebiets. Wie der jüngste Landesbericht der EU-Kommission zeigt, sind die strukturellen Defizite des Landes bedrohlich: unter anderem ein dramatischer Rückgang der Investitionen, hohe Arbeitslosigkeit, ein ständiger Rückgang der Produktivität, hohe öffentlich Schulden und ein angeschlagener Bankensektor mit einem hohen Anteil "fauler" Kredite. Italien hat seit der letzten Krise 9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung und 25 Prozent seiner Produktion verloren. Davon wurde bisher kaum etwas aufgeholt.

Italien hat besonders vom Euro profitiert. Es hat diesen Vorteil aber nicht produktiv verwertet, sondern konsumiert. Italien zog zunächst Vorteile aus der Zinskonvergenz im Eurogebiet und dann aus der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB). Dass Italiens Probleme nicht mehr im Focus der Finanzmärkte stehen, ist weniger die Folge von Reformen als das Ergebnis des Kaufs italienischer Staatsanleihen durch die italienisch geführte EZB. Hinzu kamen die Interventionen der Banca d´Italia im Rahmen des ANFA-Abkommens. Die Politik der EZB führte zu "moralischem Fehlverhalten" (moral hazard) aller italienischen Regierungen und hat die notwendigen Reformen und die Sanierung des Bankensektors verschleppt. Der Umfang notleidender Kredite, der vor der Krise bei 7 Prozent lag, ist inzwischen auf 18 Prozent oder 360 Milliarden Euro gestiegen.

In dieser Situation fordert der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi nun einen Politikwechsel in Europa - und meldet dabei gleich auch seinen Führungsanspruch an, nachdem sich Angela Merkel infolge ihrer Flüchtlingspolitik in Europa isoliert hat. Ziel der südlichen Euroländer ist es, die europäischen Haushaltsregeln des Stabilitätspaktes endgültig abzuschaffen, den Fiskalpakt zur Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auszusetzen, Haushaltsdefizite und Verschuldung weiter zu erhöhen und die notwendigen Strukturreformen von der europäischen Agenda zu streichen. Alles das beruht auf der Erwartung, dass die willfährige EZB alles tun wird, um das Eurogebiet zusammenzuhalten, indem sie unbegrenzt Staatsanleihen und die notleidenden Kredite italienischer Banken aufkauft.

Kurz: Die Forderungen und Überlegungen des italienischen Ministerpräsidenten bedeuten die gemeinschaftliche Haftung der Euroländer für Italiens Risiken und Schulden. Eine solche politische Änderung im italienischen Sinne "wäre das Rezept, die Desintegration in Europa weiter zu fördern und die EU wirtschaftlich, finanziell, politisch und sozial zu ruinieren", schreibt Jürgen Stark, bis 2012 Chefvolkswirt der EZB.

Die Sache wurde dramatisch, als die rechtspopulistische „Lega Nord“ und die linke „Fünf-Sterne“ Protestbewegung nach der italienischen Parlamentswahl 2018 gemeinsam den Anspruch erhoben, die nächste Regierung zu stellen. Beide Parteien sind extrem antieuropäisch.

Zur bisherigen Europapolitik der Regierungen in Rom, die immer europafreundlich war, sagte Lega-Chef Matteo Salvini: „ Wir machen genau das Gegenteil von dem, was die Regierungen bisher getan haben.“ Den Brüsseler Politikern und Beamten warf er vor, „die Instabilität und die Arbeitslosigkeit in Italien und halb Europa auf nie gekannte Rekordstände gebracht“ zu haben. „Indem wir eure Rezepte angewendet haben, mit Ratingagenturen, Austerität, Haushaltsregeln, sind die Staatsschulden, die Armut und die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse auf Rekordstände gewachsen“, sagte Salvini, der als Mitglied der Regierung die italienische Europapolitik maßgeblich prägen wird.  

Frankreich:

Die Lage in Frankreich ist nicht viel besser. Auch für dieses Land gilt, dass seine Wirtschaft in der Vergangenheit nur durch regelmäßige Abwertungen des Franc international wettbewerbsfähig war. Allein zwischen 1971 und 1989 verlor die französische Währung mehr als die Hälfte ihres Wertes, was der französischen Industrie einen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Der Politik ersparte dies  schmerzhafte Reformen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt,  die das Land dringend benötigt hätte.

Die französische Wirtschaft ist auch heute nicht wettbewerbsfähig. Für die reformunwilligen Franzosen ist der Euro zu stark, wie man am Arbeitsmarkt erkennen kann. Während sich die Arbeitslosenquote in Deutschland seit 2006 mehr als halbiert hat, liegt sie in Frankreich weiterhin bei rund zehn Prozent. Trotzdem bleiben die Löhne relativ hoch. Insbesondere zum Nachbarn Deutschland hat Frankreich bei den Lohnstückkosten, die maßgeblich für die Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit sind, stark eingebüßt.

Damit die Währung zur französischen Wirtschaftskraft passt, müsste der Euro rund zehn Prozent abwerten. Da das nicht geht, bleiben Frankreich nur schuldenfinanzierte öffentliche Konjunkturprogramme – oder tiefgreifende Reformen. Zu schmerzhaften  Reformen ist Frankreich jedoch nicht bereit. „Frankreich ist nicht reformmüde – Frankreich ist reformunwillig. Es gilt in der Eurozone als der „kranke Mann“ Europas, wie Deutschland vor fünfzehn Jahren“, urteilte ein früherer Beamter des BMF.

Bestätigt wird dieses Urteil durch die französischen Reaktionen auf die von Premier Manuel Valls geplante Arbeitsmarktreform, die die Bürger auf die Straße und die Eisenbahner zum Streiken brachten. Sie protestierten vor allem gegen die vorgesehene Lockerung des Kündigungsschutzes und das Ende der 35-Stunden-Woche. Dabei hat Frankreichs Arbeitsmarkt Reformen dringend nötig. Der „Code du Travail“ regelt auf 4.000 Seiten von Toilettenpausen bis zur Größe des Bürofensters jedes kleinste Detail. Entsprechen starr ist der Arbeitsmarkt des Landes. Entlassungen beispielsweise dauern oft viele Jahre und sind sehr teuer. Dies ist der eigentliche Grund für die ständig steigende Arbeitslosigkeit.

Statt einer konsequenten Reformpolitik ist die französische Regierung den Weg schuldenfinanzierter Ausgabenprogramme gegangen, um die Konjunktur zu beleben. Dadurch ist die Schuldenquote des Landes enorm angestiegen. Bis zur Finanzkrise wuchsen die Schuldenberge in Frankreich und Deutschland nahezu synchron. Während Deutschland heute auf eine Schuldenquote von 70 Prozent zusteuert, bekommt Frankreich die wachsenden Staatsschulden nicht in den Griff. Schon bald könnten sie 100 Prozent der Wirtschaftsleistung entsprechen.

Folgerichtig stößt die Geldpolitik der EZB in Form massiver Ankäufe von Staatsanleihen in Frankreich auf volle Zustimmung – im Gegensatz zu Deutschland. Unterstützung erfährt die französische Regierung auch von der Europäischen Kommission in Brüssel, die das gebotene Defizitverfahren permanent verzögert, „weil es Frankreich ist“. Der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem kritisierte deshalb zu Recht, wenn der Kommissionspräsident (Jean-Claude Juncker) sage, „die Dinge gelten für Frankreich anders, dann beschädigt das wirklich die Glaubwürdigkeit der Kommission als Hüterin des Pakts – und das ist meine Sorge“.  

Flüchtlingskrise:

Seit 1985 wurden für den sogenannten Schengen-Raum stufenweise alle stationären zwischenstaatlichen Grenzkontrollen abgeschafft. Ihre Beseitigung war für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes nicht zwingend, aber ein Komfortgewinn für Reisende. Ein transnationaler Raum ohne Kontrolle von Binnengrenzen kann jedoch langfristig nur unter drei Bedingungen funktionieren:
1. Es gibt wirksame Grenzkontrollen an der Außengrenze, die illegale Einwanderung ausschließen.
2. Es gibt eine völlige Übereinstimmung in der Einwanderungs- und Asylpolitik aller Mitgliedstaaten. Denn wer eingewandert ist, kann sich im EU-Raum frei bewegen.
3. Es gibt eine gleich Behandlung der Eingewanderten, insbesondere auf dem Gebiet der sozialen Leistungen, damit kein Sozialtourismus aufkommt.

Dreißig Jahre nach dem ersten Schengenabkommen ist keine dieser Bedingungen erfüllt. Es gibt keine sichere Außengrenze der EU, wie die illegalen Einwanderungsströme täglich zeigen. Die europäische Behörde Frontex darf nicht viel mehr als beobachten, zählen, koordinieren und gelegentlich eine Task-Force zusammenstellen. Auch von einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik ist die EU weit entfernt. Vor allem gelang es nicht, sich auf Verteilungsregeln für die aufzunehmenden Asylbewerber zu einigen. Und schließlich gibt es keine gemeinsamen Regeln für die Behandlung der Flüchtlinge. Dass der Hauptstrom nach Deutschland will, liegt nicht nur an der Willkommenskultur, sondern vor allem an den günstigen Sozialleistungen.

Zwangsläufig musste das Schengensystem scheitern, als der Strom von Flüchtlingen, die illegal einreisten, immer größer wurde. Die EU-Mitgliedstaaten nahmen daraufhin das Krisenmanagement selbst in die Hand, wobei national ganz unterschiedlich verfahren wurde: Griechenland und Italien lösten das Problem, indem sie die illegal eingereisten Flüchtlinge nach Norden weiterreisen ließen. Deutschland nahm die Flüchtlinge auf  und hieß sie „willkommen“, hoffte aber auf eine faire Verteilung innerhalb der EU. Die Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei lehnten demgegenüber die Aufnahme von Flüchtlingen grundsätzlich ab und begannen, ihre nationalen Grenzen durch Kontrollen und Stacheldraht zu schützen.

Das Scheitern in der Flüchtlingskrise hat die Europäische Union in ihren Grundfesten erschüttert. Denn es läßt sich  nicht mehr verbergen, dass das Schengen-Projekt nicht wetterfest ist, weil man es versäumt hatte, die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Die europäischen Institutionen konnten deshalb nur noch zusehen, als die nationalen Regierungen das Krisenmanagement in die Hand nahmen und nationale bzw. regionale Grenzregime einführten. Es zeigte sich, dass die Flüchtlingskrise im Unterschied zur Eurokrise kein Eliteprojekt ist, sondern nationale und europäische Gewissheiten von unter her bedroht: Die Angst vor Überfremdung. Deshalb mussten die nationalen Regierungen das Heft in die Hand nehmen. Denn ein offener Staat, der die Disposition über seine Grenzen aufgibt, mag offen sein, wird aber kein Staat bleiben können.

Inzwischen ist die Europäische Union in mehrere Fraktionen gespalten, die unterschiedliche Positionen zur Flüchtlingsfrage vertreten. Es gibt die  „Koalition der Willigen“, angeführt von Deutschland, die an Schengen festhält und die ankommenden Flüchtlinge nach Quoten auf die EU-Mitgliedsländer verteilen will, also an der Gemeinschaftslösung festhält. Ihr gegenüber stehen die Staaten, die dem „kosmopolitischen Ansatz“ der Bundesregierung kritisch gegenüberstehen und angesichts des Scheiterns von Schengen auf nationale Grenzkontrollen setzen. Den Kern bilden die vier Vizegrád Staaten Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen. Was bisher undenkbar war, ist plötzlich eine reale Gefahr: Die Lähmung und Spaltung der Europäischen Union. Schon der bei den Verhandlungen mit Griechenland  ins Spiel gebrachte „Grexit“ und die Drohung Camerons mit dem „Brexit“ zeigten, dass die Kohäsionskräfte innerhalb der Europäischen Union deutlich nachlassen. Mit der Flüchtlingskrise haben die Zentrifugalkräfte einen zusätzlichen Schub erhalten, der gefährlich ist, weil er sowohl den linken als auch den rechten Populisten in die Hände spielt.

Britischer Rettungsversuch:

Der europäische Einfluss von Angela Merkel ist seit der Flüchtlingskrise – anders als noch in der Griechenlandkrise –  deutlich schwächer geworden. Grundlage dieses Einflusses waren immer Deutschlands Größe und seine wirtschaftliche Kraft. „Doch solches Gewicht allein hilft nicht in Brüssel. Man muss auch dafür sorgen, diese  Ressourcen in Gestaltungskraft zu  verwandeln“, schreibt Florian Eder in „Die Welt“ vom 23. Januar 2016. Und daran hapert es: Angela Merkel hat sich im Kreis der EU-Regierungschefs mit ihrer „Willkommenskultur“ weitgehend isoliert.

Ein weiterer Grund für den schwindenden Einfluss sind die Wahlerfolge links-populistischer Parteien in Südeuropa  und die veränderten Machtverhältnisse innerhalb der Europäischen Volkspartei (EVP).  Der Block rechts-konservativer Regierungen in der EVP lassen die früher üblichen Vorentscheidungen nicht mehr zu. Zudem ist das Misstrauen gegenüber der deutschen Position zu weiteren Integrationsschritten deutlich gewachsen. Wenn Wolfgang Schäuble fordert, „und weil die vertiefte Integration der Währungsunion der Kern europäischer Wettbewerbsfähigkeit ist, bleibt es unabdingbar, die Währungsunion durch Vertiefung zu stabilisieren“ (FAZ vom 25. Januar 2015), dann verstärkt er damit nur die Europaskepsis in Osteuropa und Großbritannien. Denn außerhalb von Berlin will kaum noch jemand weitere Souveränitätsrechte an Brüssel übertragen.

Insbesondere für die Briten, die nicht der Währungsunion angehören, ist eine solche Politik der falsche Weg nach Europa. Sie sehen verwundert, wie etwa die Wirtschaftspolitik Griechenlands faktisch von Brüssel aus diktiert wird, ganz gleich, welche Partei die Griechen wählen. Mit Erstaunen beobachten sie auch, wie im Fall Griechenlands Vereinbarungen zustande gekommen sind. Herfried Münkler beschreibt dieses Verfahren in der Tageszeitung Die Welt vom 23. Januar 2016 so: „Wer seine Verhandlungsposition in Brüssel verbessern will, erklärt, dass er die dortigen Ergebnisse zu Haus einem Referendum aussetzen werde. Er droht mit dem Volk, um bei der Kompromisssuche weniger einbringen zu müssen. Die rechts- wie linkspopulistischen Regierungen haben aus dieser Verhandlungstaktik inzwischen eine politische Strategie gemacht. … Dass ein solches Europa keine Zukunft hat, ist klar.“

David Cameron fand deshalb mit seinen Reformabsichten viel Sympathie. Sein Ziel war es, in zentralen Punkten  Änderungen durchzusetzen, um gegenüber den britischen Wählern für den Verbleib Großbritanniens in der EU werben zu können. Craig Oliver, Camerons PR-Mann, sagte zu den Erwartungen der britischen Regierung: "Wir waren davon überzeugt, dass Europa uns schon etwas geben würde, wenn wir wirklich am Abgrund stehen. Weil wir die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der EU sind, 20 Prozent des Budgets aufbringen, die größte Armee haben, den größten auswärtigen Dienst. Wir dachten, dann würde es schon einen Kompromiss geben, dass die Leute vernünftig werden und es eine Vereinbarung gibt. Dass man uns etwas geben würde."

Verhandelt wurden auf dem EU-Gipfel im Februar 2016 "vier Körbe". Was hat David Cameron dabei erreicht?

• Erstens wollte Cameron erreichen, dass Großbritannien die Möglichkeit erhält, künftig Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland von staatlichen Lohnzuschüssen bis zu 13 Jahren auszuschließen. Die Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien) wollten aber nur fünf Jahre zugestehen. Man einigte sich schließlich auf sieben Jahre. Hierzu muss allerdings in Brüssel ein Notfallmechanismus ausgelöst werden.
• Zweitens wollte Cameron das Kindergeld für EU-Ausländer abschaffen. Man verständigte sich dahin, dass das Kindergeld zukünftig an die niedrigeren Lebenshaltungskosten in deren Heimatländern angepasst wird, wenn die Kinder dort leben. Hiervon will auch die deutsche Bundesregierung Gebrauch machen.
• Drittens forderte Cameron, dass Staaten, die wie Großbritannien nicht der Währungsunion angehören, durch Entscheidungen der Eurostaaten nicht benachteiligt werden. Man vereinbarte, dass zukünftig jedes Nicht-Euro-Mitglied in der Lage sein soll, eine Debatte über problematische Regulierungen anzustoßen. Zudem verpflichtet sich die EU, die von Cameron geforderten  "konkreten Schritte" zum Bürokratieabbau auf den Weg zu bringen.
• Viertens erreichte Cameron auf der Gipfelkonferenz, dass Großbritannien nicht zu einer weiteren politischen Integration verpflichtet ist. Neue EU-Gesetze dürfen nicht mit dem Ziel einer "immer engeren Union der Völker Europas" begründet werden. Außerdem soll der Einfluss nationaler Parlamente auf die EU-Gesetzgebung weiter ausgebaut werden.

David Cameron kommentierte das Ergebnis der Verhandlungen als  "ausreichend", um seinem Land einen "Verbleib in einer reformierten Union zu empfehlen" zu können. In Wirklichkeit war er über die mangelnde Kompromissbereitschaft der "Kontinentaleuropäer" aber tief enttäuscht, weil er bei der alles entscheidenden Frage der Personenfreizügigkeit in den Augen der Brexit-Befürworter viel zu wenig erreicht hatte. Diese Enttäuschung betraf vor allem die deutsche Regierungschefin, die für die Verhandlungen die Doktrin ausgegeben hatte: "Freizügigkeit ist keine Option".

Eine komplizierte Erlaubnis zur Reduzierung des Sozialhilfeanspruchs für EU-Ausländer war alles, was Cameron im Februar zu diesem Punkt von den Verhandlungen aus Brüssel mitbrachte. Dies war so wenig, dass er selbst das erreichte Ergebnis in der Debatte um das Referendum nicht mehr erwähnte. Für seine Gegner war es jedoch die Munition, die sie für ihre Behauptung benötigten, die EU wolle Großbritannien zu grenzenloser Zuwanderung verpflichten.  Beim Referendum am 23. Juni 2016 stimmte die Mehrheit der Briten für "leave". Die Kontinentaleuropäer mit ihrer Kompromisslosigkeit sind daran nicht unschuldig.   

Europäische Blockbildung:

Nachdem sich die Briten für den Austritt aus der Europäischen (EU) entschieden haben, formieren sich die politischen Kräfte in Europa neu. Den Anfang machten die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Italien, Portugal, Griechenland, Malta, Zypern und ein Vertreter aus Spanien, die sich Anfang September 2016 in Athen trafen. Ministerpräsident Alexis Tsipras hatte das Treffen unter das Motto "Wachstum statt Austerität" gestellt. Ziel der Beratungen war es, "der Zusammenarbeit der EU-Mittelmeerländer einen Schub zu verleihen, so dass diese Länder ihren Einfluss auf die europäische Agenda verstärken und dabei enen Stempel hinterlassen".

Die Länder des "Club Med" haben klare Vorstellungen, wie das zukünftige Europa aussehen soll: weniger sparen, mehr Solidarität, mehr gemeinsame Haftung. Sie wollen mehr Europa, in dem starke Länder wie Deutschland die schwächeren Staaten mit durchziehen. Sie wollen eine andere EU.

Nahezu gleichzeitig haben sich in Osteuropa die Visegrád-Staaten in Stellung gebracht, der Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien angehören. Auch diese Länder wollen den Brexit nutzen, um ihren Einfluss zu erhöhen. "Die wichtigsten Entscheidungen über die Zukunft Europas können nicht von ein oder zwei Staaten gefällt werden oder von den Gründungsstaaten der EU", sagte der slowakische Premier Robert Fico.

Die Osteuropäer fordern eine ganz andere Politik als die Staaten im Süden Europas: Sie wollen keine Flüchtlinge ins Land lassen. Sie setzen auf Wirtschaftsreformen statt auf immer neue Konjunkturprogramme. Und statt mehr Europa verlangen sie wieder mehr Macht für die Nationalstaaten. "Wir wollen, dass die nationalen Parlamente eine stärkere Position bekommen und dass die Europäische Kommission aufhört, Politik zu machen. Sie soll sich mit dem befassen, was in den Verträgen steht", sagte die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo. Hierzu müsse man auch über eine Veränderung der europäischen Verträge verhandeln.

Das neue Selbstbewusstsein im östlichen Europa hat materielle und ideelle Gründe. In Polen, in der Slowakei, in der tschechischen Republik und in Ungarn boomt die Wirtschaft. Nur die kleine Slowakei hat den Euro übernommen, die anderen drei Länder erfüllen zwar die Bedingungen, lehnen es aber zum Ärger von Brüssel ab, die Gemeinschaftswährung bei sich einzuführen. Die EU wird immer weniger als Chance und immer mehr als Klotz am Bein empfunden. Wichtiger aber sind die Veränderungen in den Köpfen der Osteuropäer, die nach den Erfahrungen mit dem Kommunismus nicht erneut  bevormundet und zu einem "neuen Menschen" gemacht werden wollen, dieses Mal durch Wirtschaftsplaner und Sozialingenieure aus Brüssel. Stattdessen glauben sie an den real existierenden Menschen, der an den traditionellen Werten Familie, Nation und Religion festhält.

Auch die politische Kluft zwischen den vier Visegrad-Staaten und denen, die schon länger in der EU sind, wird immer größer. Das beginnt damit, dass die Ungarn, Polen und neuerdings auch die Tschechen populistische Parteien wählen, die der derzeitigen Entwicklung in Europa kritisch gegenüberstehen. Die Meinungsunterschiede zeigen sich insbesondere bei der Behandlung der Flüchtlingsfrage. Als Deutschland 2015 die Schleusen für Migranten öffnete, beschloss eine Mehrheit der EU-Länder verbindliche Quoten zur Aufnahme der Migranten und berief sich dabei auf das Gebot der europäischen Solidarität. Die Visegrad-Gruppe hingegen interpretierte dieses Gebot ganz anders, nämlich als Verpflichtung aller EU-Staaten, Europa gegen die Massenmigration zu schützen. Aus dieser Sicht verhielt sich nicht Angela Merkel solidarisch, sondern Orban, der den Migranten den Weg nach Deutschland mit einem Zaun versperrte.    

Die Bundesregierung hat auf diese Entwicklung bisher keine Antwort gefunden. Der EU-Abgeordnete Markus Ferber (CSU) warnte insbesondere vor einer stärkeren Rolle der Mittelmeerländer: "Ich bin in großer Sorge, dass die südlichen EU-Länder künftig gemeinsam eine starke Koalition der reformunwilligen Umverteiler bilden, die die finanzielle Stabilität in Europa gefährdet. Nach dem Brexit-Votum braucht die EU Einigkeit. Europa darf nicht ausfransen und die Mittelmeerländer dürfen nicht zum Spaltpils werden". Ferber betonte zugleich, "dass der Club Med nach dem Austritt Großbritanniens eine Sperrminorität besitzt, mit der er in Brüssel sämtliche Gesetze verhindern kann, die ihm nicht passen".

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat derweil mit den meisten Staats- und Regierungschefs in der der EU gesprochen, um auszuloten, worüber man sich auf dem bevorstehenden Gipfeltreffen in Bratislava verständigen kann. "Jetzt wird es darauf ankommen, dass wir aufeinander hören, dass wir gemeinsam voneinander lernen und auf diesem Weg eine gute Agenda für die nächsten Monate beschließen, um die Schlagkraft und die Stärke der Europäischen Union deutlich werden zu lassen", sagte sie wenig konkret. Angesichts der unterschiedlichen Vorstellungen im Club Med und der Visegrad-Gruppe wird die Suche nach Gemeinsamkeiten schwierig werden. 


.
.


Zurück Druckoptimierte Version Diesen Artikel weiterempfehlen... Druckoptimierte Version
Benutzername:
User-Login
Ihr E-Mail
*