Die Angebotspolitik des Sachverständigenrates
Es war der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der Mitte der 70er Jahre das Konzept einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik als Gegenstück zur keynesianischen Nachfragesteuerung entwickelte. Die Aufgaben der Angebotspolitik sah der Sachverständigenrat darin, „die Bedingungen für das Investieren und den Wandel der Produktionsstruktur so zu verbessern, dass mit angemessenem Wachstum und hohem Beschäftigungsstand gerechnet werden darf“ (Jahresgutachten 1976).
Das Umsteuern des Sachverständigenrates
Der Sachverständigenrat, der 1963 noch unter der Kanzlerschaft von Ludwig Erhard gegründet wurde, folgte anfangs der keynesianischen Lehre von der Konjunktursteuerung. Dies änderte sich 1974, als die damit verbundenen wirtschaftlichen und fiskalischen Folgen deutlich wurden. Seitdem stand für den Sachverständigenrat nicht mehr die Konjunktursteuerung, sondern das Wachstum des Produktionspotentials durch Verbesserung der Angebotsbedingungen im Mittelpunkt der Analysen und Handlungsempfehlungen. Der Sachverständigenrat begründete dieses Umsteuern einmal mit der Krise der Globalsteuerung, die sich als untauglich erwiesen hatte, und zum anderen mit der damit verbundenen Gefahr für die marktwirtschaftliche Ordnung. Nicht das Geldausgeben und Konsumieren, sondern das Sparen und Investieren sollten wieder im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen. Die Verwandtschaft zur früheren Ordnungspolitik war erkennbar.
Mit dem Umsteuern von der Nachfrage- zur Angebotspolitik folgte der Sachverständigenrat einem neuen ökonomischen Denken, das in den siebziger Jahren unter der Führung von Milton Friedmann international an Einfluss gewonnen hatte. Hatte Keynes die Wirtschaftspolitik der fünfziger und sechziger Jahre geprägt, waren die siebziger und achtziger Jahre das Zeitalter von Milton Friedmann.
Das Denken von Milton Friedmann lässt sich auf zwei grundlegende Prinzipien zurückführen. Das erste Prinzip besteht darin, dass in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die Individuen besser wissen als irgendwelche Regierungsmitglieder oder Intellektuellen, worin ihre Interessen bestehen und was gut für sie ist. Das zweite Prinzip besagt, dass der Wettbewerb zwischen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen (einschließlich der Produzenten von Ideen und der Kandidaten für politische Ämter) der wirkungsvollste Weg ist, den Interessen von Individuen und Familien zu dienen. Dies gilt auch und gerade für die ärmeren Mitglieder der Gesellschaft (Gary Becker in FAZ vom 25. November 2006).
Mit provokanten Thesen hat Friedmann für seine marktwirtschaftliche Überzeugung geworben:
„Die soziale Verantwortung eines Unternehmens besteht darin, seinen Profit zu erhöhen.“ - „ Die Lösung der Regierung zu einem Problem ist normalerweise genau so schlecht wie das Problem.“ - „Mit den besten Absichten kann man die größten Missstände hervorrufen.“ - „Den Regierungen ist jede Entschuldigung recht, um neues Geld auszugeben. Geldausgeben ist das Lebenselixier von Politikern. Und zugleich die Grundlage ihrer Macht.“ - „Der einzige Weg, um das Verhalten der Politiker zu ändern, ist, ihnen das Geld wegzunehmen.“
Margaret Thatcher
Mit solchen Thesen avancierte Milton Friedmann zum Hauptfeind aller Linken. Zu seinen Bewunderern gehörten aber der amerikanische Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die sich bei ihrer Reformpolitik von ihm beraten ließen. Insbesondere für Margaret Thatcher war Milton Friedmann ein wichtiger Impulsgeber.
Als Thatcher im Jahr 1979 zur britischen Premierministerin gewählt wurde, war Großbritannien der „kranke Mann an der Themse“. Den Beginn des Abstiegs kann man in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verorten. Während andere Länder wirtschaftlich erstarkten und Deutschland ein wahres Nachkriegswunder erlebte, breitete sich über die Wirtschaft Großbritanniens der Mehltau aus. Der Wirtschaftshistoriker Nicholas Craft führt dies vor allem auf das Versagen der Wettbewerbspolitik zurück: Kartellbildung und ein gehöriger Grad an Protektionismus sorgten für einen Schutzraum, in dem die britische Wirtschaft zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit verlor.
Bei ihrem Amtsantritt fand Margaret Thatcher ein Land vor, das unter einer geringen Produktqualität, hoher Inflation, steigendem Staatsdefizit und hoher Arbeitslosigkeit litt. Die Gewerkschaften beherrschten die Politik. Lohn- und Preiskontrollen lähmten die Wirtschaft. Die Vollbeschäftigungspolitik und der Wohlfahrtsstaat hatten die öffentlichen Finanzen ruiniert. Wie es um die britische Industrie bestellt war, illustriert ein amtlicher Bericht über die Anschaffung eines neuen Dienstwagens für den Premierminister Callaghan:
„Zwei Jaguar wurden bestellt. Viel Zeit verging, ehe sie eintrafen. Als es endlich soweit war, fand man heraus, dass sie insgesamt 34 mechanische Mängel aufwiesen. Und man sie deshalb zurückschicken musste zur Reparatur. Als sie neu angeliefert wurden, machte Callaghan eine Probefahrt. Dabei wollte er das Fenster elektronisch öffnen. Mit dem Erfolg, dass das Fenster ihm prompt in den Schoß fiel. Worauf der Premier meinte, er wolle die beiden neuen Autos nie wieder zu Gesicht bekommen.“
Erst als im Streikwinter 1978/1979 nichts mehr ging, als der Müll nicht mehr abgeholt, die Kranken nicht behandelt und die Toten nicht beerdigt wurden, begriffen die Briten, wo sie standen. Am 28. März stürzte die Labour-Regierung. Die folgende Wahl brachte Margaret Thatcher nach einem erdrutschartigen Sieg als Premierministerin in die Downing Street. Ihre vorrangigen Ziele waren es, Großbritannien aus den Fängen der Gewerkschaften zu befreien, mit der Keynes´schen Vollbeschäftigungspolitik Schluss zu machen, den Wohlfahrtsstaat zu reformieren und die verstaatlichte Industrie zu liberalisieren. Der einzelne Bürger sollte wieder in den Stand gesetzt werden, sein Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.
Dies war ein gewaltiges Reformprogramm, das Margaret Thatcher konsequent in zwei Legislaturperioden umsetzte. In ihrer ersten Periode stand die Inflationsbekämpfung im Mittelpunkt ihrer Regierungstätigkeit. Sie begrenzte die Geldmenge, wie es Milton Friedmann empfohlen hatte, und konsolidierte den Haushalt. In der zweiten Amtsperiode ging es vor allen darum, den Einfluss der Staates und der Gewerkschaften auf die Wirtschaft zurückzudrängen. Sie privatisierte Staatsunternehmen (British Telecom, British Petroleum, British Airways etc.) sowie lokale Versorgungsunternehmen. Preise und Löhne wurden frei gegeben, und der Spitzensteuersatz von 98 Prozent auf 40 Prozent gesenkt.
Zum Schlüsselereignis wurde der Streik der britischen Bergarbeiter 1984/85 gegen die geplanten Schließungen und Privatisierungen ihrer Zechen. Der Streik dauerte ein Jahr. Erst als die Streikkasse der Gewerkschaft aufgebraucht war und sich die Bergleute privat verschulden mussten, beendeten sie den Arbeitskampf. Mit diesem „Sieg“ von Margaret Thatcher, der „eisernen Lady“, war der Einfluss der Gewerkschaften endgültig gebrochen und der Weg zu weiteren Reformen offen.
Die Durchschlagskraft dieser Reformpolitik war verblüffend. Die Zahl der durch Streiks pro Jahr verlorenen Arbeitstage ging von 29,5 Millionen auf 500 Tausend zurück. Gleichzeitig sank der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten von mehr als 50 Prozent auf unter 20 Prozent. Demgegenüber verdoppelte sich die Selbständigenquote von 7 auf 14 Prozent. Der Anteil der Mittelklasse erhöhte sich von 33 auf 50 Prozent. Die Eigentumsquote bei Häusern kletterte von 53 auf 71 Prozent.
Die Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher löste heftige Debatten aus und stieß im linken politischen Lager auf massiven Widerstand. Ihre Erfolge sind jedoch unbestritten. Als sie im April 2013 starb, äußerten sich auch ihre ehemaligen Gegner respektvoll über ihr Wirken. Der Vorsitzende der Labour-Party, Ed Miliband, würdigte sie als „riesige Figur in der britischen Politik und auf der Weltbühne“.
Der Scheidungsbrief der FDP
In Deutschland hat es eine wirtschaftspolitische Wende, die mit der Politik von Margaret Thatcher oder von Ronald Reagan vergleichbare wäre, nur in Ansätzen gegeben. Im Jahr 1982 ließ der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) ein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ erarbeiten, das am 9. September Bundeskanzler Helmut Schmidt vorgestellt wurde. Dieses Konzept, das den wirtschaftspolitischen Kurswechsel in England und den USA unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan aufgriff, enthielt Vorschläge für die Konsolidierung des Haushalts, für die Eindämmung der explodierenden Sozialkosten sowie für die Deregulierung der Märkte und Anreize zu Investitionen.
Das Lambsdorff-Papier, das als „Scheidungsbrief“ in die Geschichte eingegangen ist, führte zum Bruch der sozial-liberalen Koalition. Sein Inhalt steht stellvertretend für die wirtschaftspolitische Umorientierung von der keynesianischen Nachfragesteuerung zur liberalen Angebotspolitik, die während der 70er Jahre eingesetzt hatte. Die von Helmut Kohl geführte christlich-liberale Bundesregierung setzte die damit verbundenen konkreten Vorschläge aber nur halbherzig um. Sie machte zwar Schluss mit der antizyklischen Konjunktursteuerung und reduzierte die staatliche Neuverschuldung, sie hatte aber nicht die Kraft, die sozialen Sicherungseinrichtungen zu reformieren und die Märkte zu deregulieren. Im Jahr 2004 gelang es Norbert Blüm als Sozialminister sogar, die Pflegeversicherung als weitere umlagefinanzierte Säule der Sozialversicherung durchzusetzen.
Insofern ist das Lambsdorff-Papier gleichzeitig ein Schlüsseldokument für die Beharrungskräfte des westdeutschen Gesellschaftsmodells. In der späteren Regierungszeit von Helmut Kohl sind zwar Märkte liberalisiert wurden, die Anstöße dazu kamen aber nicht von der Bundesregierung, sondern beruhten auf Initiativen der Europäischen Union. Auf Grund ihres Binnenmarktprogramms wurden die Märkte für Verkehr, Telekommunikation und Energie geöffnet und dereguliert. Staatsunternehmen wie Post und Bahn und Versorgungsunternehmen wurden ganz oder teilweise privatisiert. Ohne die europäischen Vorgaben hätte es in Deutschland einen solchen Liberalisierungsschub aber nicht gegeben.