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Die Rentenversicherung unter Druck
22.08.2015 22:37 (3620 x gelesen)

Rentenversicherung unter Druck

Ein wesentlicher Bestandteil der Schöder´schen Reformagenda war die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, die durch politische Überforderung, demografische Entwicklung und steigende Arbeitslosigkeit unter Druck geraten war. Es war nicht das erste Mal, dass die im Jahr 1891 als "Invaliditäts- und Rentenversicherung" von Otto von Bismarck geschaffene Versicherung in Schwierigkeiten war.

Die Ursprünge aller deutschen Sozialversicherungen gehen auf die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 zurück, die Wilhelm I. auf Veranlassung des Reichskanzlers von Otto von Bismarck an den Deutschen Reichstag sandte. Gegenstand dieser Botschaft war die Schaffung eines staatlichen Versicherungswesens,  um die prekäre Existenz der Industriearbeiter zu verbessern und den wachsenden Einfluss der Sozialdemokraten einzudämmen. Im Laufe der folgenden Jahre beschloss der Reichstag die Errichtung einer Gesetzlichen Krankenversicherung (1884),  einer Unfallversicherung (1885) und einer Invaliditäts- und Rentenversicherung (1891). Versichert wurden zunächst nur die  Industriearbeiter.

In der Invaliditäts- und Rentenversicherung war - im Unterschied zur heutigen Rentenversicherung -  eine durch Kapital gedeckte Finanzierung der Ausgaben vorgesehen. Der gesetzliche Beitrag von 1,7 Prozent war paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern  aufzubringen. Zusätzlich zahlte das Deutsche Reich einen Zuschuss in die Rentenkasse. Die gesetzlichen Leistungen bestanden aus festen Renten ab dem 70. Lebensjahr, die den Charakter eines Unterhaltszuschusses hatten. Erst mit Einführung der Rentenversicherung für Angestellte wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre herabgesetzt.

Schon 25 Jahre nach ihrer Gründung stand die staatliche Rentenversicherung finanziell am Abgrund:  Der 1. Weltkrieges und die nachfolgende Hyperinflation vernichteten die Rücklagen, so dass der Steuerzahler einspringen musste. In der Weimarer Republik gelang es nicht, die Rentenversicherung wieder auf eine solide und eigene Grundlage zu stellen. Ebenfalls nicht unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die andere politische Ziele verfolgten. So blieben die Renten bis in die fünfziger Jahre auf einem äußerst niedrigen Niveau. Die Neuordnung des Sozialwesens gehörte deshalb zu den großen Aufgaben, die sich der neuen Bundsrepublik stellten.

Die erste Rentenreform

Zu Beginn seiner zweiten Legislaturperiode verkündete Bundeskanzler Konrad Adenauer eine „große Sozialreform“, die alle Zweige der Sozialversicherung umfassen sollte. Niemand konnte aber sagen, wie eine solche Reform aussehen und finanziert werden sollte.  Auch Konrad Adenauer wusste es nicht. Denn allen Sozialkassen fehlte das nötige Geld. Zudem gab es zwischen den großen Parteien gravierende Unterschiede über den einzuschlagenden Weg: Die Sozialdemokraten orientierten sich am Plan des britischen Sozialreformers Sir William Beveridge, der 1942 eine steuerfinanzierte Universalrente für das ganze Volk vorsah. Demgegenüber wollte Anton Storch, ein Mann des linken CDU-Flügels, an Bismarcks System der beitragsfinanzierten Rente festhalten.

Im Sommer 1955 kam dann plötzlich für die Rentenversicherung die erlösende Idee. Wilfried Schreiber, Geschäftsführer des Bundes katholischer Unternehmer, hatte ein Konzept für eine Rentenreform erarbeitet, das mit dem geltenden Kapitaldeckungsprinzip Schluss  machte und an seine Stelle das Umlageverfahren setzte. Die Beiträge der jeweils arbeitenden Bevölkerung sollten im Sinne eines Generationenvertrages sofort an die im Ruhestand lebenden Menschen als Rente ausgezahlt werden.

Außerdem sah der Vorschlag die Koppelung der Rentenhöhe an die Entwicklung der Arbeitseinkommen vor. Die Rente sollte "dynamisch" werden und in ihrer Höhe der allgemeinen Lohnentwicklung folgen. Sie sollte aber nicht höher als 50 Prozent des letzten Nettoverdienstes sein. Staatszuschüsse waren nicht vorgesehen. Schreiber hatte eine Grundsicherung  im Auge, um den Versicherten zusätzlich Raum für eine private Vermögensbildung zu lassen.

Adenauer griff diesen Vorschlag begeistert auf, weil er damit mehrere  Probleme lösen konnte. Er wusste, dass die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl im Jahr 1957 die soziale Karte spielen wollten. Mit einer Rentenreform konnte er im Rahmen der versprochenen „großen Sozialreform“ den ersten Teilerfolg für sich verbuchen. Der Charme des Schreiberschen Konzeptes bestand darin, dass die Renten durch das Umlageverfahren ohne Staatszuschüsse sofort angehoben werden konnten. Letzteres erleichterte vor allem die parlamentarische Durchsetzung dieses Vorschlags.

Ordnungspolitische Bedenken aus dem liberalen Lager um Ludwig Erhard wischte Adenauer zur Seite. Den Kritikern erklärte er: „Hören Sie doch einmal einen Mann, der mit 75 DM im Monat auskommen muss. Das ist doch menschenunwürdig“. Dem Einwand, die Beschäftigungslage könne sich auch verschlechtern, hielt er entgegen, bei einem so grundlegenden Vorhaben könne man „nicht jede wirtschaftspolitische Eventualität berücksichtigen“. Es müsse „etwas riskiert werden, wenn man Neuland betritt“. Widersprechende Kabinettsmitglieder warnte Adenauer, die Wahl sei schon verloren, „wenn man das Problem der Renten nicht rechtsgültig und großzügig löse“. Er verlangte ein Inkrafttreten der Rentenreform mit Wirkung zum 1. Januar 1957, also noch vor der Bundestagswahl 1957. Außerdem sollten alle Rentner zu Weihnachten 1956 eine Sonderzahlung erhalten.

Und so geschah es. Das neue Rentengesetz wurde am 22. Januar 1957 mit den Stimmen von Union und SPD verabschiedet. Insgesamt stimmten 412 der anwesenden 456 Abgeordneten den Gesetzesvorlagen zu, was für den Wirtschaftsflügel in der Union eine „neue Erfahrung“ bedeutete. Nach den erbitterten Auseinandersetzungen um die Soziale Marktwirtschaft hatte man eine solche „große Koalition“ kaum für möglich gehalten. Befremdlich erschien den Mittelständlern insbesondere, wie eng die Sozialpolitiker aus CDU und SPD, die sich in der Debatte mit „liebe Kollegen“ anredeten, bei diesem Gesetzesvorhaben zusammengearbeitet hatten.

Die Renten wurden zum 1. Januar 1957 bei Arbeitern durchschnittlich um 65 Prozent und bei Angestellten um 72 Prozent angehoben. Zudem erhielten die Rentner im  Juli 1957, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, üppige Nachzahlungen. Das damit verbundene wahltaktische Kalkül ging auf. Am 15. September 1957 siegten die Unionsparteien mit einem Stimmenanteil von über 50 Prozent. Der Kommentar des Arbeitsministers Anton Storch: “Entscheidend für den Wahlsieg war die Rentenreform.“

Mit Adenauers Rentenreform  verschwand die Altersarmut über Nacht. Doch die Reform hatte einen fundamentalen Nachteil: Sie wurde als Vertrag zwischen zwei Generationen ohne die von Wilfried Schreiber vorgeschlagene Kinderrente konzipiert. Tatsächlich ist jedoch jedes Rentensystem ein Drei-Generationen-Vertrag: Die aktive Generation muss die ältere versorgen und eine junge großziehen. Wird das vergessen, gerät das System schnell aus der Balance, wenn die Kinder ausbleiben.

Diese Tatsache war seinerzeit durchaus bekannt und Adenauer wurde dringend empfohlen, einen demographischen Faktor in die Rentenberechnung einzuführen - vergeblich. Der Kanzler wischte die Einwände mit dem berühmten Satz beiseite: "Kinder kriegen die Leute immer." Heute weiß man, dass es sich dabei um einen verhängnisvollen Irrtum handelte, der das Rentensystem in eine tiefe Krise geführt hat: 1957 wurden in Deutschland durchschnittlich 2,5 Kinder pro Frau geboren, heute sind es 1,5. Zudem hat sich die Rentenbezugsdauer mehr als verdoppelt. 1960 konnte ein Arbeitnehmer noch mit 9,9 Jahren im Ruhestand rechnen, 2012 waren es bereits 18,9 Jahre. Zwangsläufig musste sich dadurch zwischen sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgaben eine wachsende Schere bilden, für die es bis heute keine Lösung gibt.  

Die Rentenreform war in der Regierungszeit von Konrad Adenauer die  wichtigste sozialpolitische Entscheidung. Sie war aber auch ein schlechtes Beispiel dafür, wie die Sozialpolitik für Zwecke des Wahlkampfes mißbraucht werden konnte. Adenauer selbst erwähnte sie in seinen zehn Jahre später erschienen „Erinnerungen“ mit keinem Wort. Vermutlich ahnte er bereits, was er damit ausgelöst hatte: eine Anspruchsmentalität, die sich kaum noch eindämmen ließ.

Die mit der Rentenreform 1957 vorgelebte Großzügigkeit fand ihre Fortsetzung, als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde. Unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ startete die von ihm geführte sozial-liberale Koalition ein sog. Reformprogramm, das die staatlichen Sozialausgaben auf breiter Front massiv ausweitete. Zu diesem Programm gehörten u.a. eine abschlagsfreier Renten ab 63, für Frauen und Arbeitslose sogar ab 60, und Möglichkeiten für Selbständige und Hausfrauen, sich zu großzügigen Bedingungen nachzuversichern.  Allein dadurch erhöhten sich die Rentenausgaben zwischen 1969 und 1972  von 41,6 Milliarden DM auf 61, 4 Milliarden DM, d.h. um fast 50 Prozent. Die Union stimmte allen Rentengesetzen zu.

Die Rentenfalle

Die Folgen der großzügigen Rentenpolitik zeigten sich schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Rentenausgaben  deutlich schneller wuchsen als die Beitragseinnahmen. Die maßgeblichen Treiber dieser Entwicklung waren neben der Rentenpolitik die zunehmende Alterung der Gesellschaft und der Rückgang der Beschäftigung. Die sich dadurch öffnende Scheere zwischen Rentenausgaben und Beitragseinnahmen erforderte politisches Handeln.   

Norbert Blüm, Arbeitsminister unter Kanzler Helmut Kohl, war einer der Ersten, der beispielsweise durch das Streichen von Ausbildungszeiten und der Angleichung des Rentenalters für Frauen bei der Rentenberechnung Rentenkürzungen durchsetzte. Gleichzeitig warb er intensiv mit öffentlichen Kampagnen um Vertrauen für die gesetzliche Rentenversicherung.  Mit 15.000 Plakaten ließ er im Jahr 1986  verkünden: „Denn eines ist sicher: Die Rente.“

Diese Zusage wurde Blüms berühmtester Satz. Doch schon in den neunziger Jahren holten ihn die Finanzierungsprobleme wieder ein. Wegen steigender Arbeitslosigkeit reichten die Beitragseinnahmen zur Deckung der Rentenausgaben nicht mehr aus. Im letzten Amtsjahr von Helmut Kohl musste deshalb die Rentenformel in aller Eile um einen „demografischen Faktor“ erweitert werden. Zweck dieser Maßnahme war es, das Rentenniveau, das zu Blüms Zeiten noch gut 57 Prozent erreichte, an die demografische Entwicklung zu koppeln und den Anstieg des Beitragsatzes zu begrenzen.

Als Gerhard Schröder Bundeskanzler wurde, ersetzte er den demografischen Faktor durch die sog. „Riestertreppe“, wobei die sich ergebende Rentenlücke  durch eine private und öffentlich geförderte Riesterrente aufgefangen werden sollte. Zusätzlich wurde mit der Agenda 2010 der sog. „Nachhaltigkeitsfaktor“  in die Rentenformel eingebaut, um auch die Arbeitsmarktentwicklung bei der Rentenhöhe zu berücksichtigen. Außerdem beschloss die große Koalition (im Jahr 2007) die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre. Mit diesen Maßnahmen sollte gewährleistet werden, „dass der Beitragssatz bis 2030 die seit 2005 gesetzlich verankerte Obergrenze von 22 Prozent nicht überschreitet und das gesetzlich festgelegte Mindestsicherungsniveau von 43 Prozent nicht unterschritten wird“ (Bert Rürup in FAZ vom 31. Januar 2014). 

Derzeit liegt das Rentenniveau bei 47,7 Prozent des durchschnittlichen Einkommens eines Arbeitnehmers. Nach den Berechnungen der Sozialversicherung wird das Rentenniveau bis 2030 auf 44,2 Prozent des Durchscnittseinkommens sinken. Aber auch nach 2030 geht es auf Grund der alternden Gesellschaft weiter abwärts. Damit gerät die Rente in die Nähe der Sozialhilfe und verliert damit die ihr zugedachte Sicherungsfunktion. Schon heute liegt die durchschnittliche Rentenauszahlung  (734 Euro im Westen und 896 Euro im Osten) in der Nähe der Grundsicherung (einschließlich Wohn- und Heizkosten) von 740 Euro – für die man nicht arbeiten muss.

Die Rente ist also keineswegs so sicher, wie Norbert Blüm früher behauptete. Denn ein Rentensystem, aus dem man mit Beiträgen nicht mehr bekommt als jemand, der keine Beiträge gezahlt hat, „erledigt sich von selbst“ (Norbert Blüm in FAZ vom 3. Dez. 2014). Die Parlamentarische Linke der SPD fordert deshalb eine "mittelfristige Anhebung auf 50 Prozent", damit die gesetzliche Rente den Lebensstandard sichert. Nach den Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft würde dies bis 2029 jährlich 52 Milliarden Euro kosten, die zu höheren Beiträgen führen würden. Dies wäre der Abschied von einer Rentenpolitik, die mit Hilfe des Absenkens des Rentenniveaus den  Anstieg des Rentenbeitragssatzes in Grenzen halten wollte, um den Arbeitsmarkt nicht zusätzlich zu belasten. Die Politik befindet sich in der Rentenfalle: Bert Rürup prophezeite unter Verweis auf die rasch wachsende Gruppe älterer Wähler: „Weitere Leistungsrücknahmen wird es nie mehr geben.“  Als mögliche Hebel zur Stabilisierung der Rentenfinanzen nach dem  Jahr 2030 empfahl er ein weiteres Heraufsetzen der Regelaltersgrenze oder eine noch stärkere Finanzierung aus Steuermitteln. Anderenfalls müssten die Beiträge heraufgesetzt werden.

Der Kurswechsel

Die Idee einer Solidarrente:

Bert Rürup lag mit seiner Prognose zum Rentenniveau richtig:  Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) begann Anfang 2016 -  nach Einführung der Rente mit 63 und der Mütterrente -  mit den Arbeiten an einem weiteren Rentenpaket, das eine sogenannte "Solidarrente", auch Lebensleistungsrente genannt, enthalten soll. Mit dieser Solidarrente sollen die Altersbezüge von Geringverdienern über den Wert ihrer Beitragszahlungen hinaus aufgewertet werden. " In der großen Koalition sei "klar vereinbart", diese Reform bis zum Jahr 2017 gemeinsam umzusetzen, sagte Nahles. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: "Wir wollen, dass sich Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung in der Sozialversicherung auszahlen." Ziel ist die Bekämpfung der Altersarmut und die Stärkung der Legitimation der Rentenversicherung. Die CDU/CSU-Fraktionsführung signalisierte bereits Kompromissbereitschaft in dieser Sache.

Die Überlegungen zur Solidarrente sehen vor, dass die Rente von Geringverdienern, die mindestens 40 Beitragsjahre vorweisen können und zudem private Altersvorsorge betrieben haben, auf ein Niveau von voraussichtlich rund 880 Euro, also leicht oberhalb der Grundsicherung im  Alter, aufgestockt wird. "Wir müssen ein System entwickeln, damit Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, im Alter nicht in die Grundsicherung rutschen", sagte der Rentenexperte der Union Peter Weiß (CDU). Nötig sei aber eine Bedürftigkeitsprüfung, die es bislang in der Rentenversicherung nicht gebe. Denn die sprichwörtliche Zahnarztgattin solle nicht in den Genuss der Solidarrente kommen. Streitig ist allerdings die Finanzierung. "Wenn man eine zusätzliche Sozialkomponente einführt, muss dies aus Steuermitteln finanziert werden", sagte Peter Weiß, weil die Rentenkasse bereits aus dem ersten Rentenpaket bis 2030 mit 160 Milliarden Euro belastet werde. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) lehnte die Finanzierung aus Steuermitteln mit der Begründung ab, er halte an der schwarzen Null fest und benötige das Geld zur Lösung der Flüchtlingskrise.

Mitte Juli 2016 meldete auch die Deutsche Rentenversicherung Bedenken an. Im Kampf gegen Altersarmut sei die von der Koalition erwogene Lebensleistungsrente "kein guter Ansatzpunkt". Denn 94 Prozent aller Empfänger von Renten unter 600 Euro sind nicht arm, weil sie über sonstige Einkünfte verfügen. Nur 6 Prozent der Kleinrentner sind wirklich bedürftig, haben also weniger als das Existenzminimum und erhalten ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung. "Zur Bekämpfung von Altersarmut sind Maßnahmen innerhalb der Rentenversicherung nicht sehr zielgenau und deshalb nicht die beste Wahl", sagte der Forschungsleiter der Rentenversicherung, Reinhold Thiele.

Die Pläne zur Einführung einer Solidarrente lösten eine kontroverse Debatte über das zukünftige Rentenniveau aus: Bert Rürup wies auf das Legitimationsproblem eines Rentensystems  hin, wenn in Zukunft immer mehr Geringverdiener im Alter auf staatliche Fürsorge angewiesen sind. "Dadurch bekommt unser über Zwangsbeiträge finanziertes Rentensystem ein Legitimationsproblem." Der Wirtschaftsflügel der Union kritisierte, dass die Solidarrente in Zeiten des demografischen Wandels die falsche Antwort sei. Statt neuer Sozialleistungen sollten längeres Arbeiten und Wohnungseigentum gefördert werden. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) errechnete, dass das Einfrieren des heutigen (2016) Rentenniveaus den Beitragssatz von 18,7 auf 22 Prozent im Jahr 2027 steigen lassen würde. Damit seien vor allem die jungen Beitragszahler belastet. Der deutsche Sachverständigenrat befürchtete negative Auswirkungen für den Arbeitsmarkt. Der Wirtschaftsweise Lars Feld mahnte:   "Selbst in den günstigsten Szenarien bleibt die Tragfähigkeitslücke bestehen. Deshalb warnen wir ganz explizit davor, nun auch noch eine solidarische Lebensleistungsrente einzuführen."

Der Vorstoß des DGB:

Anfang September 2016 forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. "Unsere zentrale Forderung ist eine Stabilisierung des gesetzlichen Rentenniveaus", sagte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zum Auftakt einer Anzeigen- und Plakatkampagne in Berlin. "Eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters oder Leistungskürzungen sind mit den Gewerkschaften nicht zu machen", stellt Hoffmann klar. Die gesetzliche Rente müsse "für ein Leben im Alter in Würde" reichen. Sonst sei ihre Legitimation in Gefahr. Als ersten Schritt will der DGB das Rentenniveau auf dem jetzigen Stand von knapp 48 Prozent stabilisieren. Langfristig soll es dann wieder deutlich angehoben werden.  

Dafür müsse der Beitragssatz "maßvoll und in kleinen Schritten so früh wie möglich schon vor 2030" von heute 18,7 auf 22 Prozent erhöht werden, forderte Reiner Hoffmann. Außerdem müssten versicherungsfremde Leistungen künftig komplett aus Steuern und nicht mehr aus Beiträgen gezahlt werden, beispielsweise die 7 Milliarden Euro jährlich für die Mütterrenten. Langfristig müsse die Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung umgebaut werden, in die auch Beamte und Selbständige einzahlen müssen.

Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) kritisierte die DGB-Vorschläge heftig. "An den richtigen Grundsatzentscheidungen zum Rentenniveau, zum Beitragssatz und zur Altersgrenze muss festgehalten werden", warnte BDA-Präsident Ingo Kramer. Die Gewerkschaften schürten unnötig Ängste. "Den behaupteten Sturzflug der Renten wird es nicht geben." Der DGB unterschlage, dass es seit 2009 ein Rentengarantiegesetz gebe, das Absenkungen der Rente verhindere. Außerdem unterstellten die Berechnungen des DGB, dass die Löhne bis 2030 niemals steigen werden, was völlig unrealistisch sei.

Im DGB ist man jedoch optimistisch, dass man die Parteien von der Notwendigkeit eines Kurswechsels überzeugen kann. Schließlich zählen sie mehr als sechs Millionen Mitglieder und im kommenden Jahr stehen Bundestagswahlen an. Unterstützung bekam der DGB bereits vom Sozialflügel der Union. Ihr Vorsitzender Karl-Josef Laumann (CDU) forderte,  für die Zeit nach 2030 müsse das Mindestrentenniveau gesetzlich festgeschrieben werden.

Arbeitsministerin Andrea Nahles kündigte auf einer Veranstaltung des DGB an, dass sie der Forderung nach beschleunigten Rentenerhöhungen entgegen kommen will. "Das Kernversprechen des Sozialstaats ist es, dass man nach einem Leben voller Arbeit im Alter abgesichert ist", sagte sie. Sie wolle deshalb mit ihrem für November geplanten Konzept für eine große Rentenreform eine "Haltelinie" für das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente einziehen.

Im Sozialgesetzbuch sind aufgrund der Schröderschen Rentenreform derzeit zwei Eckpunkte für die Rentenversicherung festgeschrieben: Zum einen darf der Beitragssatz bis 2030 nicht über 22 Prozent des Bruttolohns steigen, um den Arbeitsmarkt nicht zu belasten; zum anderen darf das Rentenniveau nicht unter 43 Prozent sinken. Festlegungen für die Zeit nach 2030 gibt es bisher nicht. Während Nahles vor allem die Rentenentwicklung nach dem Jahr 2030 im Blick hat, reicht den Gewerkschaften die bestehende "Haltelinie" für das Rentenniveau nicht aus. Sie fordern deshalb schon heute einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Rentenpolitik. 

Axel Börsch-Supan:

Axel Börsch-Supan ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik München. Um der Angstmacherei in der Debatte über den Niedergang der deutschen Rente eine "Haltelinie" zu setzen, hat er in einem FAZ-Beitrag vom 10. Oktober 2016 an folgende Fakten und Zusammenhänge erinnert:

Tatsächlich sinkt das sogenannte "Rentenniveau" (= Rentenquote)  um etwa einen halben Prozentpunkt pro Jahr. Damit sinkt aber nicht die Rente, sondern nur das Verhältnis von durchschnittlicher Rentenzahlung zum Durchschnittslohn. Das die Löhne auch in Zukunft steigen werden, wird auch das Niveau der Rentenkaufkraft steigen, und zwar um durchschnittlich 1 Prozent pro Jahr. Die nächste Generation kann also damit rechnen, Renten mit einer um ein Drittel höheren Kaufkraft zu erhalten als die heutigen Rentner.  

Die gesetzliche Rente in Deutschland ist dank der Reformen des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm und der Schröderschen Agenda 2010 in einem Zustand, dass die gesetzliche Sicherungsuntergrenze (= 43 Prozent) ebenso wie die Beitragsobergrenze (= 22 Prozent) bis 2030 eingehalten werden kann. Handlungsbedarf besteht bei der Erwerbsminderungsrente und den Arbeitslosen, aber nicht beim Durchschnittsrentner, der auch in Zukunft höhere Renten erhalten wird.

Die Rentenquote sinkt, weil die Lebenserwartung dank immer besserer Gesundheit steigt. Weil wir länger leben, aber von einer gleichbleibenden Lebensarbeitszeit von 45 Jahren ausgehen, wird die Rente immer teurer. Die Verlängerung der Rentenbezugszeit ist dramatisch: sie hat sich seit 1957 auf mittlerweise 20 Jahre mehr als verdoppelt und wird bis 2045 um weitere sieben Jahre ansteigen.

Die Rentner profitieren also von einer immer längeren Rentenbezugszeit und finanzieren diese teilweise selbst durch geringer ausfallende Rentenerhöhungen. Den Rest finanziert die jüngere Generation durch Beitragserhöhungen.

Fazit: Das Rentensystem ist stabil bei der heutigen Lebenserwartung. Steigt sie in Zukunft weiter, verlangt das Vertrauen in dieses System, ehrlich zu sagen, dass die Menschen auch länger arbeiten müssen.  

Große Koaltion 2018

Die große Koalition verspricht der Bevölkerung einen „verlässlichen Generationenvertrag“. In der Rentenpolitik haben SPD und Union im Koalitionsvertrag Vorhaben vereinbart, die sie kurzfristig umsetzen wollen: die Mütterrente II, die Einführung einer Grundrente sowie die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente. Außerdem wird eine Stabilisierung des derzeitigen Rentenniveaus angekündigt. Wie es dann langfristig weitergeht, soll eine Expertenkommission klären.

Das größte Finanzrisiko birgt der GroKo-Plan, das Rentenniveau – also die Rentenhöhe im Verhältnis zum Durchschnittslohn – bis 2025 bei 48 Prozent stabil zu halten. „Die Festschreibung des Rentenniveaus auf 48 Prozent lässt die Rentenbeiträge in den kommenden Jahren ansteigen und vermittelt eine Stabilität der Rente, die unser Rentensystem derzeit gar nicht hat“, warnt der Generalsekretär des CDU-nahen Wirtschaftsrats. Sollte der Konjunkturaufschwung weiter anhalten, kostet die Stabilisierung vier Milliarden Euro. Im keineswegs unwahrscheinlichen Fall einer wirtschaftlichen Flaute jedoch drohen Zusatzkosten von 15 Milliarden Euro, im Extremfall sogar bis zu 38 Milliarden Euro, heißt es in der Analyse des Wirtschaftsrats.

Dabei ist die Fixierung auf das Rentenniveau für Rentner uninteressant. Denn für Ruheständler ist nicht dieser Quotient entscheidend, sondern die tatsächliche Höhe der Rente. Und die ist in den letzten Jahren trotz sinkenden Rentenniveaus ständig gestiegen. Obwohl das Rentenniveau seit 2005 bereits um vier Prozentpunkte gesunken ist, erhöhten sich die Renten bis heute um 23 Prozent. Der Anstieg der Löhne fiel in diesem Zeitraum nur wenig höher aus.

Die große Frage ist, ob die Rentenkommission den Mut hat, die grundsätzlichen Weichenstellungen vorzunehmen, die für eine langfristige Stabilisierung des Rentensystems notwendig sind. Denn die demographisch schwierigen Jahre beginnen nach 2030, wenn viel mehr Senioren von einer schrumpfenden Zahl  von Erwerbstätigen alimentiert werden müssen. Der CDU-Wirtschaftsrat fordert deshalb, dass der Rentenbeginn an die Entwicklung der Lebenserwartung gekoppelt wird. Die SPD lehnt dies ab. 

    


 


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