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Die Warnung der Autoindustrie
05.11.2018 12:35 (1990 x gelesen)

Die Warnung der Autoindustrie

Während Angela Merkel in Berlin mit der Bildung einer Jamaika-Koalition beschäftigt war, sah die deutsche Automobilindustrie mit großer Sorge den neuen CO2-Auflagen entgegen, welche die EU-Kommission Anfang November 2017 präsentieren wollte. Es ging um die Frage, wie stark die zulässigen Kohlendioxidgrenzwerte für neu zugelassene Fahrzeuge in Europa bis zum Jahr 2030 gesenkt werden sollen. Die Industrie befürchtete, dass die Kommission nach dem Dieselskandal künftig sehr viel strengere Umweltmaßstäbe anlegen würde. Es war bereits die Rede vom Schicksalstag der europäischen Automobilindustrie.

Hinter den Kulissen wurde intensiv verhandelt und gefeilscht. Die deutschen Autobauer hatten die Hoffnung, eine drohende 40-Prozentgrenze verhindern zu können. Mit der Unterstützung  der Bundeskanzlerin konnten  sie diesmal nicht rechnen, obwohl sie Merkels Hilfe dringender denn je brauchten. Stattdessen appellierte Sigmar Gabriel (SPD) an Brüssel, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Branche nicht zu überfordern. Auch EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger sprang für die  Hersteller in die Bresche. Er warnte vor Planwirtschaft und unrealistischen Klimazielen: „Einige Politiker sind zu blauäugig und glauben, die Autoindustrie schafft jede Vorgabe.“

Die EU-Kommission erwog nach Informationen aus Brüssel ein Senkungsziel zwischen 30 und 40 Prozent. Das hieß, die Kohlendioxidemission von Neuwagen musste bis 2030 gegenüber 2021 im Schnitt um diese Prozentzahl reduziert werden. Die Automobilhersteller schlugen stattdessen eine CO2-Reduktion von 20 Prozent vor. Hinzu sollten Innovationsanreize kommen: wenn Hersteller eine besonders klimafreundliche Technologie anboten, sollte dies bei den neuen Testverfahren berücksichtigt werden. Aus Sicht der Industrie war ein System, das Anreize für saubere Antriebe fördert, sinnvoller als ein System, das Grenzwertüberschreitungen bestraft.

Die Sache war kritisch, weil die Unterstützung für die deutschen Interessen bröckelte. Lediglich Italien zog noch mit Deutschland an einem Strang. In Brüssel kursierte ein Brief von wichtigen EU-Mitgliedsländern (ohne eigene Automobilindustrie), mit dem von der EU-Kommission eine härtere Gangart gefordert wurde. Dabei ging es auch um die Frage, ob Europa die ambitionierten Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten konnte. Letzteres trieb vor allem die Grünen um. „Wenn Paris realisiert werden soll, müssen die Grenzwerte um 60 Prozent abgesenkt werden“, rechnete der niederländische Europaabgeordnete Bas Eickhout vor.

Die EU-Kommission wählte schließlich einen Mittelweg. Am 8. November 2017 teilte sie mit, dass die Autohersteller den Kohlendioxidausstoß ihrer Neuwagenflotte bis 2030 um 30 Prozent - verglichen mit den Grenzwerten für 2021 - senken sollen. Bis 2025 soll der Ausstoß schon um 15 Prozent zurückgehen. Gleichzeitig soll der Anteil von Elektrofahrzeugen bis 2025 auf 15 Prozent und bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Die EU-Kommission verzichtete aber auf eine verbindliche Elektroquote. Um die Verbreitung emissionsarmer Fahrzeuge zu fördern, setzte sie auf ein Anreizsystem: Wenn die Autohersteller mehr Elektrofahrzeuge oder andere emissionsarme Fahrzeuge auf die Straße bringen, erhalten sie Bonuspunkte und können damit ihre CO2-Reduktionsziele überschreiten.

Parlament und Ministerrat müssen der Entscheidung der Kommission noch zustimmen. Berichterstatterin im Europäischen Parlament ist die maltesische Sozialdemokratin Miriam Dalli, die striktere Ziel für die Autobranche fordert. Der durchschnittliche CO2-Ausstoß der Neuwagenflotte soll bis 2025 um 20 Prozent und bis 2030 um 50 Prozent verglichen mit 2021 sinken. Die Kommission hatte 15 und 30 Prozent vorgeschlagen. Außerdem aber will Dalli vorschreiben, dass bis 2030 die Hälfte der Neuwagenflotte aus Elektroautos oder anderen emissionsarmen Autos bestehen muss. Unterstützung erhält die Abgeordnete von der deutschen Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD), die ebenfalls schärfere Emissionsgrenzwerte fordert. Ob Dalli sich mit ihren Vorschlägen durchsetzen kann, wird im Plenum des Europäischen Parlaments entschieden.

In der deutschen Autoindustrie sorgen die Vorschläge für erheblichen Wirbel: man hält sie für unrealistisch, überzogen und gegen den Standort Deutschland gerichtet. Über die Stoßrichtung müsse man sich nicht wundern, komme die Berichterstatterin doch aus einem Land, das keine Autoindustirie habe. "Durch zu ambitionierte gesetzliche Vorgaben erzeugte technologische Brüche schaden Wohlstand und Beschäftigung in der EU und schwächen insbesondere den Industriestandort Deutschland", gibt der Verband der Automobilindustrie (VDA) zu bedenken.

Zerstrittene Bundesregierung

In der Bundesregierung ist ein offener Streit über die geplanten schärferen CO2-Grenzwerte für Autos ausgebrochen. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) sprach sich für strikte Grenzwerte für Autos aus. "Das große Sorgenkind im Klimaschutz ist der Verkehrssektor, hier muss dringend mehr passieren", sagte sie. Deutschland und die EU insgesamt hätten verbindliche Klimaschutzziele für 2030 vereinbart, die sie einhalten müssten. "Wir würden eine Chance verpassen, wenn wir von der Autoindustrie nicht das technisch Mögliche auch verlangen."

Demgegenüber warnte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) vor zu ehrgeizigen Zielen. "Wir brauchen keine willkürlichen politisch-ideologischen Grenzwerte, sondern realistische technisch machbare Grenzwerte", so Scheuer. "Wir brauchen nicht nur saubere Luft in unseren deutschen Städten und Innovationen für die Zukunft, sonder auch die Hunderttausende an Arbeitsplätze und Wohlstand in Europa." Die "Vernichtung einer europäischen Leitindustrie" mache er nicht mit.

Schulze hielt dem entgegen, ihr sei es auch wichtig, durch eine rechtzeitige Aufholjagd bei der Elektromobilität die Zukunft des Automobilstandorts zu sichern. Das könne aber nur mit klimaverträglichen Technologien gelingen, nicht mit einem Verharren in der Vergangenheit. Sie zähle auf die Innovationskraft der Branche. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) schlug sich auf die Seite seiner SPD-Genossin geschlagen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), tief im Herzen schwarz-grün, schwamm im Ungefähren. "Altmaier müsste die Öko-Hardliner in die Schranken weisen", forderten daher die Auto-Lobbyisten.

Die Suche nach einem Kompromiss zwischen den zuständigen Ministerien dürfte schwierig werden. Damit die neuen EU-Klimaschutzziele in Kraft treten können, müssen sich Parlament und Ministerrat auf eine gemeinsame Position einigen. Die Einigung im Ministerrat soll, wenn möglich, im Herbst 2018 erfolgen. Wenn die Bundesregierung darauf Einfluss nehmen will, muss sie sich rechtzeitig auf eine gemeinsame Position verständigen. Denn der Ministerrat muss in dieser Frage nicht einstimmig entscheiden.

Im Zweifel kommt es auf die Kanzlerin Angela Merkel an, die allerdings wieder die Klimakanzlerin in sich entdeckt hat, nachdem der selbsterklärte Musterknabe Deutschland die selbst gesetzten Klimaziele verfehlt. "Wir müssen besser werden", sagte sie auf einer Klimakonferenz Mitte Juni 2018. "Unser großes Sorgenkind ist der Verkehr."  Wie sie zu dem Streit zwischen ihren Ministern steht, ließ sie offen.

Bisher lief die Festsetzung von CO2-Grenzen folgendermaßen ab: Brüssel schlug Eingriffe vor, die der Autoindustrie weh taten. Die Konzernbosse meldeten daraufhin im Kanzleramt ihre Bedenken an, das sich im Namen von Arbeitsplätzen und Wohlstand für sie in Brüssel einsetzte. So schnürte die Bundeskanzlerin im Jahr 2013 ein bereits beschlossenes EU-Grenzwerte-Paket wieder auf -  zum Wohlgefallen der Autoindustrie.

Einem solchen Verdacht wird sich die Bundeskanzlerin nicht mehr aussetzen, nachdem manipulierte Dieselmotoren, inhaftierte Automanager und Rückrufaktionen den Ruf der Autoindustrie ruiniert haben. Noch nie hatte die einstige Vorzeigebranche einen so geringem politischen Einfluss: "Wir werden nicht mehr vorgelassen", klagen Top-Manager. Sicher ist auch, dass die deutschen Premiumhersteller auf wenig Verbündete in anderen EU-Ländern hoffen können, die entweder Kleinwagen verkaufen oder gar keine Autos produzieren. 

Diese Mal ist alles anders: Setzen sich die Öko-Hardliner durch, dann ist das Geschäftsmodell der deutschen Autoindustrie bedroht. Nicht mal der V-Golf, das meist verkaufte Auto in Europa, wäre in der Lage, die halbierten CO2-Grenzwerte zu schaffen.  Daimler und BMW müssten ihre Modellpolitik radikal ändern: sie müssten statt schwerer Limousinen spritsparende Kleinwagen herstellen, wie es das erklärte Ziel der Öko-Kämpfer ist. Dummerweise kaufen die Leute gegenwärtig jedoch am liebsten SUV.

Die Konzerne müssten ihr Sortiment zudem massiv mit Elektroautos bestücken, um den geforderten CO2-Durchschnitt in der Flotte zu erreichen. Im Endeffekt käme dies einer Elektroquote gleich. Den Autoherstellrn würde praktisch befohlen, Elektoautos zu verkaufen - koste es, was es wolle. Ob der Strom dafür aus dem dreckigen Kohlekraftwerk kommt oder aus einem Atomkraftwerk, das schert die Klimaretter nur bedingt. Ob der Kunde das mag oder nicht, erst recht nicht.

Inzwischen hat sich in diesem Streit der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zu Wort gemeldet. Er befürchtet, die Autoindustrie werde überfordert, und widerspricht damit der SPD-Umweltministerin. "Ich bin bekennender Sozialdemokrat. Für mich sind Arbeitsplätze wichtig. Die ökologische Wende, die wir alle wollen, kann nicht gelingen, wenn die Anforderungen nicht erreichbar sind. Schon der Vorschlag der EU-Kommission mit einer Senkung des CO2-Ausstoßes um 15 Prozent bis 2025 und um 30 Prozent bis 2030 ist sehr ambitioniert. Ich kann nur dringend davor warnen, das weiter zu verschärfen. Davon halte ich nichts."

Schlag gegen deutsche Autobauer

Mitte Oktober 2018 warnte VW-Chef Herbert Dies die Politik davor, die Autobranche mit immer neuen Umweltvorgaben zu überordern, während sich ausländische Konkurrenten für den deutschen Markt rüsten. Die deutsche Autoindustrie könnte sonst ihre Spitzenposition am Weltmarkt verlieren. „Aus heutiger Sicht stehen die Chancen vielleicht bei 50:50, dass die deutsche Automobilindustrie in zehn Jahren noch zur Weltspitze gehört“, sagte er auf einer VW-Veranstaltung in Wolfsburg (DIE WELT vom Oktober 2018).

Der Volkswagen-Chef griff die Politik scharf an. „Der jetzige Feldzug gegen die individuelle Mobilität und damit gegen das Auto“ nehme existenzbedrohende Ausmaße an, sagte er. „ Ich denke dabei an die beinahe hysterische Stickoxid-Diskussion um wenige Problemzonen in unseren Städten, die sich in den nächsten Jahren fast von selbst auflösen werden. Oder an die neuen CO2-Grenzwerte, die aktuell in Berlin und Brüssel verhandelt werden und die den Automarkt vollständig revolutionieren werden.“

Die Autoindustrie habe verstanden, dass die Autos der Zukunft sauber und schadstoffarm fahren müssten. Doch Vorgaben, die die Politik in Berlin und Brüssel machen würde, seien von „unbekannter Hast“ bestimmt. „Wenn wir den CO2-Ausstoß unserer Autoflotte bis 2030 um 30 Prozent reduzieren müssen, dann geht das nur mit einem Drittel reiner E-Autos auf den Straßen“, sagte Herbert Dies. Für Deutschland könnten diese Vorgaben die Umweltbilanz wegen des hohen Anteils von Kohlestrom eher verschlechtern als verbessern.

Die Folgen von Dieselgate, strengere Umweltvorgaben und neue Prüfzyklen könnten nach Feststellung von Herbert Dies für Deutschland fatal sein: „Wer sich ehemalige Autohochburgen wie Detroit, Oxfort-Cowley oder Turin anschaut, der weiß, was mit Städten passiert, in denen einst starke Konzerne und Leitindustrien schwächeln.“ 

Ende 2018 einigten sich die Unterhändler von Europäischem Parlament und Ministerrat, dem Gremium der Staaten, nach monatelangen Verhandlungen, die Kohlendioxidgrenzwerte für Autos um rund ein Drittel zu reduzieren. Bis 2025 soll sich der CO2-Ausstoß der Neuwagenflotten für Autos um 15 Prozent reduzieren. Fünf Jahre später sollen Autos 37,5 Prozent weniger emittieren. Im Jahr 2023 will die Kommission die Grenzwerte dann überprüfen.

Basiswert für die Reduktion ist der erlaubte durchschnittliche CO2-Ausstoß im Jahr 2021 in Höhe von 95 Gramm für Autos. Das entspricht etwa einem Verbrauch von 3,8 Litern Benzin oder 3,2 Litern Diesel auf 100 Kilometern. 2030 dürfte der Ausstoß somit nur noch bei rund 60 Gramm liegen. Momentan sind es allerdings 118,5 Gramm. Überschreiten die Autobauer mit ihren Flotten die Grenzwerte, müssen sie Strafen von 95 Euro je zuviel ausgestoßenen Gramm CO2 und verkauftem Auto zahlen. Die Strafen könnten schon ab 2021 anfallen, wenn das 95-Gramm-Ziel scharf gestellt wird.

Die Autoindustrie reagierte alarmiert auf die Entscheidung in Brüssel. VW-Chef Herbert Diess hatte schon früher gewarnt, es stünden 100.000 Arbeitsplätze im VW-Konzern auf dem Spiel, falls die Grenzwerte zu stark abgesenkt würden.  Allein in Deutschland sind 830.000 Beschäftigte in der Autobranche von den künftigen Klimazielen betroffen. In keinem anderen Teil der Welt gäbe es vergleichbar scharfe CO2-Ziele, beklagte der Verband der Automobilindustrie.  Die Europäische Branchenvereinigung Acea bezeichnete sie als „total unrealistisch“. 

Autofachleute sind sich einig, dass die neuen CO2-Ziele die Branche verändern werden. Für die Branche geben es nur zwei Wege, die Ziele zu erreichen, sagte Jürgen Pieper, Autofachmann des Bankhauses Metzler: „Man kann die Flotte kleiner und leichter machen und so die Emissionen senken.“ Allerdings würde das der Premiumstrategie vieler Hersteller widersprechen. Der zweite Weg: „Elektrifizierung – komme was da wolle.“ Aber selbst dann dürfte es schwer werden, die Ziele im Jahr 2030 auch tatsächlich zu erreichen. Für den Volkswagen-Konzern bedeutet dies laut VW-Chef Herbert Diess,  dass der Anteil von E-Fahrzeugen bis dahin 40 Prozent des Gesamtabsatzes betragen müsste. 

Die Bundesregierung reagierte unterschiedlich auf das Brüsseler Verhandlungsergebnis. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) sprach von einem „guten Ergebnis, das uns beim Klimaschutz und Zukunftsjobs voranbringen wird“. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) meinte, er sei „grundsätzlich optimistisch, dass wir diesen Kompromiss umsetzen – wenn auch mit Bedenken und Sorgen“. Angela Merkel hatte sich ursprünglich für niedrigere Grenzwerte ausgesprochen: „Alles, was darüber hinausgeht, birgt die Gefahr, dass wir die Automobilindustrie aus Europe vertreiben.“ Der Streit in der Bundesregierung führte dazu, dass sich die Bundesregierung erst sehr spät mit einer einheitlichen Linie in die Verhandlungen einbrachte. Das hat die deutsche Verhandlungsposition nicht gerade gestärkt, ist die Meinung in Brüssel.


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