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Reform- und Steuerpolitik : Schröders Agenda 2010
23.08.2015 11:49 (3236 x gelesen)

Schröders Agenda 2010

Am 14. März 2003 legte Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Deutschen Bundestag ein grundlegendes Reformprogramm für den Arbeitsmarkt vor, dem man den Titel "Agenda 2010" gab. Ziel dieses Programms war es, die verkrusteten Strukturen des Arbeitsmarktes aufzulösen, um die  wachsende Arbeitslosigkeit in Deutschland  zu bekämpfen. Dazu hatte eine von Peter Hartz geleitete Reformkommission einen bunten Strauß von Ideen entwickelt, die Medien und Öffentlichkeit monatelang beschäftigten. Substantiell und brisant waren Vorschläge der Kommission zu Maßnahmen, die einerseits Unternehmen veranlassen sollten, mehr Mitarbeiter einzustellen, und andererseits den Arbeitssuchenden Anreize gaben, ein Arbeitsangebot auch anzunehmen. Zu diesen Maßnahmen  gehörten insbesondere die Lockerung des Kündigungsschutzes und strengere Voraussetzungen für die Arbeitslosenhilfe.

Die Gewerkschaften und Sozialpolitiker sahen  in solchen Vorschlägen den Bruch mit dem traditionellen "Arbeitnehmerschutz", den sie seit dem 1. Weltkrieg in Deutschland  durchgesetzt hatten, und kündigten Schröder den Kampf an. Dieser wusste aber, dass es dazu keine vernünftige Alternative gab, weil dem Problem der Arbeitslosigkeit nach den gemachten Erfahrungen anders nicht beizukomnmen war. Und er wusste auch, dass  ihn die konsequente Umsetzung seiner Reformagenda die Kanzlerschaft kosten könnte.  

Das  Stinnes-Legien-Abkommen

Die Grundlagen des deutschen Arbeitsrechts, das durch Sozialpartnerschaft und Arbeitnehmerschutz geprägt wird, wurden unmittelbar nach dem 1. Weltkrieges in einer Vereinbarung zwischen der Industrie und den Gewerkschaften festlegt. Hierzu trafen sich im Spätherbst 1918 die Repräsentanten der Eisen- und Stahlindustrie mit Vertretern der Gewerkschaften im Hotel Continental am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Auf der Tagesordnung stand die grundsätzliche Klärung des Verhältnisses von Industrie und Gewerkschaften. An der Spitze der Gewerkschaften stand der Drechslergeselle Carl Legien; die Industrie wurde von dem Industriellen Hugo Stinnes vertreten.
 
An der Klärung ihres Verhältnisses hatte beide Seiten ein fundamentales Interesse. In der deutschen Industrie ging die Angst um, in den Wirren der Novemberrevolution 1918 nach dem Muster der russischen Revolution von 1917 enteignet zu werden. Von Seiten der Regierung, die selbst in Gefahr war, konnten die Industriellen Hilfe und Schutz nicht erwarten. Also blieben als  Bundesgenossen nur die gemäßigten Gewerkschaften übrig, die man bisher bekämpft hatte. Ihre Vertreter waren ebenfalls gesprächsbereit, weil sie befürchteten, in dem herrschenden Chaos von den extremen Linken ausgespielt zu werden, wie es die Bolschewisten ein Jahr vorher in Russland gemacht hatten. Es gab also ein gemeinsames Interesse, das Kriegsbeil zu begraben und nach einer Verständigung zu suchen. Diese wurde auch schnell gefunden.
 
Vor dem Hintergrund der in Berlin tobenden Revolution schlossen beide Seiten  am 15. November 1918 einen Vertrag, das sog. Stinnes-Legien-Abkommen, mit dem ein neues Kapitel in der deutschen Sozialgeschichte aufgeschlagen wurde. Der tragende Gedanke des Abkommens war der „Schutz des Arbeitnehmers“ in der modernen Industriegesellschaft, insbesondere gegenüber seinem Arbeitgeber. Die Industrievertreter gaben ihre antigewerkschaftliche Einstellung auf und erkannten die Gewerkschaften als legitime Vertreter der Arbeiterschaft an. Man einigte sich auf die Gültigkeit von Tarifverträgen, die Einführung des Achtstundentages und die Einrichtung von Betriebsräten. Ein Zentralausschuss sollte für die Durchführung dieser Vereinbarung sorgen. Das Stinnes-Legien-Abkommen wurde damit zum Gründungsdokument der Sozialpartnerschaft in Deutschland. In Verbindung mit der Weimarer Reichsverfassung entstand auf  dieser Grundlage schon in der Weimarer Republik ein besonderes Arbeitsrecht, dessen Leitidee bis heute der Schutzgedanke ist.

Der Wandel des Arbeitsverhältnisses

Für den Schutz des Arbeiternehmers gab es im frühen Industriezeitalter zwingende Gründe:  Die Arbeiter waren in lärmenden und schmutzigen Betrieben beschäftigt. Ihre Arbeit war häufig schwer und gefährlich. Einen  betrieblichen Arbeitsschutz im heutigen Sinne gab es nicht. Die Arbeitnehmer waren auch vor „Ausbeutung“ durch die Arbeitgeber nicht geschützt. Die Arbeitszeiten waren lang, der Urlaub kurz und der Lohn zumeist karg. Wenn der Arbeitgeber kündigte, war dies für den Industriearbeiter und seine Familie eine wirtschaftliche und menschliche Katastrophe. Denn neben der Lohnarbeit gab es regelmäßig keine Einkommensquelle, von der sie leben konnten. Arbeitsalternativen waren rar. Vor allem bei Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit und Alter drohten Armut und Not.

Gegenüber dem Industriezeitalter hat sich die moderne Arbeitswelt jedoch radikal geändert. Die Menschen arbeiten heute in Betrieben zu menschenwürdigen und häufig attraktiven Bedingungen. Die Arbeits- und Urlaubszeiten sind angemessen und lassen Raum für individuelle Gestaltung. Mit dem Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat sich auch der Stellenwert der Arbeitsleistung verändert. Anstelle der Handarbeit dominiert die Kopfarbeit, wodurch die Grenzen zwischen weisungsgebundener und selbständiger Arbeit fließend geworden sind. Das Wissen und die Fähigkeiten der Mitarbeiter sind häufig  das eigentliche Kapital des Unternehmens. Vielfach ist der Arbeitgeber heute von seinen Mitarbeitern abhängiger als umgekehrt. Dadurch ergeben sich für Arbeitnehmer auch ganz andere Arbeits- und Beschäftigungsalternativen als für den früheren Industriearbeiter. Gleichwohl genießen die heutigen Arbeitnehmer einen Kündigungsschutz, von dem die früheren Industriearbeiter nicht einmal träumen konnten. 

Infolge dieses radikalen Wandels der Arbeitswelt hat sich - objektiv betrachtet - das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer im Vergleich zum Industriezeitalter deutlich vermindert. Es wäre deshalb an der Zeit, das Verhältnis von Unternehmern und Arbeitnehmern generell auf den Prüfstand zu stellen. Insbesondere muss  der Kündigungsschutz reformiert werden, weil er als  "Beschäftigungsbremse" die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes beeinträchtigt, wodurch Arbeitssuchende benachteiligt werden. Dass dies unterbleibt, hängt mit dem Selbstverständnis von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Sozialpolitikern zusammen: Sie sehen weiterhin ihre Aufgabe darin, die tradierten Formen des Arbeitnehmerschutzes zu verteidigen und weiter auszubauen. Vorschläge, das Arbeitsverhältnis zu flexibilisieren, werden reflexartig als „Sozialabbau“ diskreditiert und  abgelehnt. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist dies ein Problem, das die Politik herausfordern muss.


Schöders Agenda 2010

Gerhard Schröder hatte erkannt, dass der rigide „Kündigungsschutz“ für Unternehmer eine ernsthafte Hürde für die Einstellung weiteren Personals war. Er entschärfte dieses Problem vor allem dadurch, dass er die Möglichkeiten für alternative Arbeitsmarktformen wie Minijobs, Teilzeitarbeit, Zeitarbeit oder befristete Arbeit erweiterte. Den Kündigungsschutz selbst ließ er trotz Einschränkung seines Geltungsbereichs grundsätzlich unangetastet. Mit dieser Umgehungsstrategie beseitigte Schröder aber seine negativen Wirkungen. Die Arbeitgeber erhielten durch die alternativen Arbeitsmarktformen die notwendige Flexibilität bei ihrer Personalpolitik, die sie benötigten, um neue Mitarbeiter einzustellen.

Außerdem wurde die staatliche Arbeitsmarktpolitik mit der Agenda 2010 auf eine neue Grundlage gestellt, um für Arbeitsfähige den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu stärken. Um die erwerbsfähigen Arbeitslosen konsequenter betreuen zu können, führte man die kommunale Sozialhilfe mit dem Arbeitslosengeld II zusammen. Gleichzeitig wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf 12 Monate gekürzt. Daran schloss sich bei Bedürftigkeit das Arbeitslosengeld II (= Hartz IV) an. Die Job-Center erhielten die Auftrag, bei der Betreuung der Arbeitslosen und ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt die erforderliche Hilfe zu leisten.  Zugleich verschärfte die Agenda 2010 die Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsaufnahme. Das Prinzip des „Fördern und Fordern“ trat an die Stelle reiner Unterstützungsleistungen. So erhielt die Arbeitsverwaltung die Instrumente, um arbeitsfähige Arbeitslose wieder in Arbeit zu bringen.

Diese Reformen waren ein sozialpolitischer "Paradigmenwechsel". Norbert Blüm hatte gemeint, dass man der Arbeitslosigkeit durch Frühverrentung, Arbeitszeitverkürzung und längere Ausbildungszeiten, d.h. durch Kürzung des Arbeitsangebots, beikommen könnte. In der SPD gab es weiterhin starke Kräfte, die mit einer Politik des „deficit spending“, d.h. mit höheren und kreditfinanzierten Staatsausgaben,  zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollten. Gerhard Schröder beseitigte stattdessen mit seinen Reformen die strukturellen Schwächen in der Arbeitsmarkt- und Sozialordnung, die die eigentlichen Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit waren. Er entschärfte die Einstellungshürde „Kündigungsschutz“ und erhöhte für Arbeitslose die Anreize zur Arbeitsaufnahme. Der Erfolg gab ihm recht.

Für Gewerkschaften, Sozialverbände und die politische Linke war die Agenda 2010 eine Provokation. Ihr gemeinsames Ziel war es deshalb, die damit auf den Weg gebrachten Reformen wieder zurückzudrehen. In der hierzu jahrelang betriebenen Kampagne wurde behauptet, die Agenda 2010 führe zur Spaltung der Gesellschaft. Am unteren Ende würden die Leute immer ärmer, am oberen Ende immer reicher. Dazwischen wachse Unsicherheit und die Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Kritiker sprachen von „Armut per Gesetz“.  Mit der Realität hatte diese Kritik allerdings wenig zu tun.  Denn die Ausgaben für  arbeitsmarktpolitische Zwecke stiegen nach der Reform deutlich an.

 Die Kampagne blieb jedoch nicht ohne Wirkung auf Politik und Öffentlichkeit. Trotz stetig sinkender Arbeitslosenzahlen begann man, an die Legende von der „sozialen Kälte“ der Agenda 2010 zu glauben. Schon in der Zeit der großen Koalition von 2005 bis 2009 wurden deshalb Teile der Agenda 2010 wieder zurückgenommen. Die im Jahr 2013 neu gebildete große Koalition knüpft an diese Politik an. Union und SPD  vereinbarten eine strengere Regulierung der Zeitarbeit. Der „missbräuchliche“ Einsatz von Werkverträgen im Wirtschaftsverkehr  soll verhindert werden. Es gibt auch neue Schutzrechte für Arbeitnehmer: So sollen Teilzeitbeschäftigten nach der Eltern- und Pflegezeit einen Anspruch auf eine Vollzeittätigkeit erhalten.

Fazit: Schritt für Schritt werden so Elemente der Agenda 2010, die im Interesse von Beschäftigung für mehr Flexibilität gesorgt haben, wieder beseitigt, nachdem sich der Arbeitsmarkt erholt hat.   


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