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Leipziger Reformparteitag (2001 bis 2004)
27.12.2018 12:53 (1836 x gelesen)

Leipziger Reformparteitag
(2001 - 2004)

Die Wirtschaftspolitik von Angela Merkel (CDU) habe ich als Landes- und Bundesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) aus der Nähe verfolgen können. Darauf beruhen die nachfolgenden Berichte für die Jahre 2001 bis 2013.

Aufbruchszeit

Mit dem Bundesverband der MIT kam ich erstmals bei der Bundesdelegiertenversammlung am 26. und 27. Oktober 2001 in Weimar in Kontakt. Ich hatte kein Mandat, sondern vertrat dort den Landesverband der MIT Niedersachsen als dessen Vorsitzender. 

Der Weimarer Kongress der MIT fand zu einer Zeit statt, als die CDU dabei war, sich personell und inhaltlich neu aufzustellen. Die Spendenaffäre um Helmut Kohl hatte die Partei tief erschüttert. Anfang 2000 fasste der CDU-Vorstand den Beschluss, den Ehrenvorsitz von Helmut Kohl „ruhen“ zu lassen. Wenige Wochen später wurde auch Wolfgang Schäuble (CDU) von der Affäre erfasst und trat als Partei- und Fraktionsvorsitzender zurück. Doch dann berappelte sich die Partei mit neuen Gesichtern: Am 29. Februar 2000 wurde Friedrich Merz zum Nachfolger Schäubles im Fraktionsvorsitz der CDU/CSU gewählt. Und sechs Wochen später wählten die Delegierten Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Essen mit 96 Prozent der Stimmen zur neuen CDU-Vorsitzenden. Sie war damit die erste Frau in Deutschland an der Spitze einer Volkspartei.

 

In ihrer von viel Beifall unterbrochenen Antrittsrede verkündete Angela Merkel mit dem Blick auf die Spendenaffäre, für die CDU könne es „keine Diskussion um die Einhaltung von Recht und Gesetz geben“. Die CDU bezeichnete sie als die große Volkspartei der Mitte, „weil wir auf der Basis fester Grundwerte stehen, weil sich in uns christlich-soziale, wertkonservative und liberale Überzeugungen bündeln“. Sie erinnerte auch an die „Botschaft der Sozialen Marktwirtschaft“, wobei sie hinzufügte: „Ich meine, wir haben diese Botschaft in den vergangenen Jahren etwas vernachlässigt. Ich sage das ganz selbstkritisch auch in Richtung unserer Partei.“  Dabei vergaß sie auch den Mittelstand nicht: „Gerade die mittelständischen Unternehmen haben in den Zeiten der Globalisierung zum Teil schwierigere Kämpfe auszufechten, als es bei den großen Global Players der Fall ist. Deshalb ist es vorrangige Aufgabe der Politik, mittelständischen Unternehmen in besonderer Weise unter den Arm zu greifen.“

Im Hinblick auf die Globalisierung mahnte Angela Merkel: „Umweltverschmutzung, unverantwortlicher Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum, das trifft uns alle in Zukunft immer mehr und direkt.“ Um dann der Schröder-Regierung ins Stammbuch zu schreiben: „Rot-Grün spricht von all diesen Gefahren überhaupt nicht mehr: nicht von der Erwärmung der Erde, nicht von der Abnahme der Artenvielfalt und nicht vom Abschmelzen der Polkappen. Denn Rot-Grün hat Angst, kein Rezept und keine Vision, wie man damit umgeht. Dazu sage ich: Wir müssen wieder die Partei des modernsten Umweltschutzes werden.“ Damit meinte sie auch das Festhalten an der Kernenergie: „Wir aber berauben uns unseres Technik- und Forschungssachverstandes mutwillig und vorsätzlich dadurch, dass wir aus der Kernenergie aussteigen. Und können in Zukunft, wenn es einmal zu kritischen Ereignissen kommt, nicht mehr helfen. Dafür trägt Rot-Grün die Verantwortung.“

Unmittelbar nach ihrer Wahl zur CDU-Vorsitzenden berief Angela Merkel eine „Präsidiumskommission“ mit prominenten Persönlichkeiten ein, die unter ihrem Vorsitz das Diskussionspapier „Neue Soziale Marktwirtschaft“ erarbeiteten. In diesem Papier, das am 27. August 2001 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, erläuterte Angela Merkel die fünf Hauptlinien ihrer zukünftigen Politik:

1. Deutschland brauche zuallererst eine Qualifizierungsoffensive in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Denn in einer Wissensgesellschaft werde die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen, zu nutzen und weiterzuentwickeln, zum Haupterfolgsfaktor. 
2. Deutschland brauche aber auch eine Offensive für mehr Transparenz und Flexibilität. In Zeiten ständigen Wandels und rascher Innovationen müssten Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hochflexibel agieren und reagieren können.
3. Dann brauche Deutschland eine Offensive gegen Beschäftigungshemmnisse. Denn trotz hoher Aufwendungen für eine aktive Arbeitsmarktpolitik habe Deutschland im internationalen Vergleich kaum Erfolge bei der Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit vorzuweisen.
4. Schließlich brauche Deutschland eine Offensive für einen verlässlichen Sozialstaat. Denn die Solidarsysteme, die die großen Lebensrisiken Krankheit und Alter absichern, seien gefährdet.
5. Nicht zuletzt müsse Deutschland am Aufbau einer internationalen Wirtschaftsordnung mitwirken. Denn unser Wirtschaften und Arbeiten vollziehe sich in einem nationalen Rahmen, der der zunehmenden Globalisierung nicht mehr genüge.

Für einen solchen grundsätzlichen Politikwechsel, der nahezu alle Politikfelder abdeckte, konnte Angela Merkel in der CDU mit großer Zustimmung rechnen. Deutschland galt damals als ein Land, das strukturell verkrustet und erstarrt war. Auf dem Arbeitsmarkt stieg die Arbeitslosigkeit immer weiter an. Die Sozialversicherungen drohten finanziell zu kollabieren. Gleichzeitig kletterte die Staatsverschuldung ständig weiter nach oben. Investieren lohnte sich für Unternehmer bei dem schwachen Wachstum kaum noch. Kurzum: Deutschland war zum kranken Mann in Europa geworden. Große Teile der Bevölkerung waren deshalb bereit, den Aufbruch zu wagen.

Die gleiche Zielrichtung hatte der von mir für den MIT-Landesdelegiertentag in Niedersachsen vorbereitete Leitantrag „Mehr Selbständigkeit wagen!“, mit dem ich mich im August 2001 um das Amt des MIT-Landesvorsitzenden bewarb. Gegenüber dem Diskussionspapier „Neue Soziale Marktwirtschaft“ von Angela Merkel hatte ich aber einige Vorbehalte:

Mir lag daran, an Ludwig Erhards „Sozialer Marktwirtschaft“ anzuknüpfen. Von einer „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ zu sprechen, hielt ich angesichts der historischen Leistung von Ludwig Erhard für anmaßend. Was mich außerdem störte, war die akademische Überbetonung der „Wissensgesellschaft“. Denn für die Beseitigung der hohen Arbeitslosigkeit kam es in erster Linie auf Handwerk, Handel und Industrie an. Kritisch sah ich auch den Anspruch, am Aufbau einer internationalen Wirtschaftsordnung mitwirken zu wollen. Ein solches Sendungsbewusstsein verkannte nach meiner Einschätzung den Auftrag und die Möglichkeiten der deutschen Politik.

Für den MIT-Kongress in Weimar hatte ich zwei Anliegen im Gepäck: Mein Konkurrent bei der Wahl zum MIT-Landesvorsitzenden, Jost Hartmann, sollte Mitglied des MIT Bundesvorstandes werden. Außerdem wollte ich dafür sorgen, dass der niedersächsische Antrag „Mehr Selbständigkeit wagen!“ bei den Delegierten die erforderliche Mehrheit fand. Beide Anträge waren auf dem Bundeskongress dann auch Selbstläufer.

Hoch her ging es aber bei einem anderen Punkt: Der Bundesvorstand der MIT hatte beantragt, den jährlichen Mitgliedsbeitrag von 120 DM auf 120 Euro zu ändern, also zu verdoppeln. Hiergegen gab es massiven Widerstand von Seiten der Landesverbände. Es wurde argumentiert, dass die Beitragsfestsetzung Sache der Kreisverbände sei und eine Verdoppelung den Verlust von Mitgliedern zur Folge haben würde. Man benötigte also einen Vermittler. Als ich den Vorschlag machte, gleichzeitig den Beitragsanteil des Bundesverbandes auf 2,50 Euro pro Monat und Mitglied zu senken, waren die Delegierten einverstanden. Ich hatte dem Vorstand eine peinliche Niederlage erspart. 

„Kölner Leitsätze“

Die nächste Bundesdelegiertenversammlung der MIT fand am 17./18. Oktober 2003 in Köln statt. Dieser Kongress diente in erster Linie der Vorbereitung auf den bevorstehenden Parteitag der CDU, der am 1. und 2. Dezember 2003 in Leipzig stattfinden sollte. Angela Merkel wollte diesen Parteitag mit einem umfangreichen Reformprogramm gestalten und sich als Reformpolitikerin feiern lassen. Hierbei wollten wir sie nicht nur unterstützen, sondern auch die besonderen Anliegen der MIT zur Abstimmung stellen. 

Zur Positionsbestimmung der MIT hatte der Bundesvorstand für den Kongress in Köln die sogenannten „Kölner Leitsätze“ vorbereiten lassen. Dieses Papier, das vom Institut dr Wirtschaft (IW) in Köln verfasst worden war, fand meine volle Zustimmung. Es begann mit einer Mahnung, die Ludwig Erhard am 12. März 1962 seinen Landsleuten im Rundfunk zugerufen hatte: „Das deutsche Volk muss wissen, wo wir stehen … Noch ist es Zeit, aber es ist auch höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volk möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des Einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann …“ 

Es folgte dann eine schonungslose Analyse des Arbeitsmarktes, der Sozialsysteme, der Steuer- und Bildungspolitik sowie der Bürokratie mit ihren hemmenden Wirkungen für den Arbeitsmarkt und das wirtschaftliche Wachstum. Gleichzeitig wurden konkrete Antworten gegeben, damit in Deutschland wieder wirtschaftliche Dynamik entstehen konnte. Hierzu forderte der Leitantrag ein Gesamtkonzept für die vier wichtigsten Politikbereiche Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Steuerpolitik und Bildungspolitik. Hinzu kam ein systematischer Bürokratieabbau. Das Arbeiten auf einer Baustelle allein konnte nicht reichen.

Auf diesem Kongress sprachen sowohl Angela Merkel als auch Friedrich Merz. Von Friedrich Merz ließen sich die gut 500 Delegierten mitreißen. Originalton:
„Nichtarbeit wird in diesem Land häufig noch immer zu gut bezahlt!“ – „Manche Sozialhilfeempfänger haben es sich in der zweiten und dritten Generation in ihrer Nische gemütlich gemacht. Streng genommen verhalten sie sich strikt marktwirtschaftlich: Mit einem Minimum an Aufwand erzielen sie ein Höchstmaß an Ertrag!“ – „Fakt ist: heute lebt ein Sozialhilfeempfänger auf dem gleichen Niveau wie ein Facharbeiter in den 70-er Jahren.“

Angela Merkels Worte klangen weniger kritisch und appellierten an alle: mehr anpacken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Vor allem forderte sie mutige Schritte in die Zukunft: „Schluss mit den kleinen Tippelschritten, wir müssen jetzt sicherstellen, dass die Systeme eine ganze Zeit halten.“ Dafür erhielt sie vom Tagungspräsidenten Hartmut Schauerte (MdB) ein großes Lob: „Es ist unglaublich, wie mutig Sie an die Reformarbeiten herangegangen sind. Der Mittelstand hat auf diesen Mut lange warten müssen. Wir wollen Veränderungen, und wir wollen, dass Sie diese Reformbewegung anführen.“

Auf dem MIT-Bundeskongress in Köln standen auch Vorstandswahlen an:  Der Bauunternehmer Peter Rauen (MdB) aus Rheinland-Pfalz, der seit 1987 im Bundestag saß, wurde erneut zum Bundesvorsitzenden der MIT gewählt. Ich bewarb mich um den Posten eines Stellvertreters und wurde mit großer Zustimmung gewählt. In meiner Vorstellungsrede sagte ich, dass sich die MIT an die Spitze des Reformzuges setzen müsste. „Die MIT muss Motor des Reformprozesses sein. Ohne grundlegende Reformen – auf dem Arbeitsmarkt, in der Sozial- und Steuerpolitik – ist Deutschland international nicht mehr wettbewerbsfähig.“

Schon wenige Tage nach dem Kölner Kongress wandte sich Peter Rauen an die Mandatsträger in der MIT, um sie aufzufordern, sich innerhalb der CDU für die Umsetzung der „Kölner Leitsätze“ einzusetzen. Er schrieb: "Es geht jetzt ganz konkret darum, unsere Kölner Leitsätze in die Programmdiskussion von CDU und CSU nicht nur einzubringen, sondern, wo immer möglich, auch kurzfristig durchzusetzen. Ich habe den Eindruck, dass sich in unseren Volksparteien in den nächsten Wochen entscheiden wird, ob es in unserem Sinne eine Mehrheit dafür geben wird, die Systeme selbst zu ändern oder ob es eine Mehrheit dafür gibt, letztendlich doch wieder nur innerhalb der Systeme an den Symptomen herum zu kurieren.“

In demselben Schreiben nahm Peter Rauen Bezug auf die Vorschläge der „Herzog-Kommission“, die im Auftrag von Angela Merkel Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme erarbeitet hatte. Die Kommission hatte vorgeschlagen, die lohnabhängigen Beiträge bei der Kranken- und Pflegeversicherung durch „ein kapitalgedecktes und einkommensunabhängiges Prämiensystem“ zu ersetzen. Dies entsprach der MIT-Forderung, die Sozialsysteme so weit wie möglich vom Faktor Arbeit abzukoppeln.

Vom Sozial- und Arbeitnehmerflügel der CDU (CDA) wurden solche Vorschläge jedoch heftig mit allen Mitteln bekämpft. Peter Rauen schrieb deshalb: „Ich habe ernstzunehmende Hinweise dafür, dass die CDA wo immer möglich versucht, auf der Ebene der Kreisparteien Anträge zu formulieren, die im Kern darauf abzielen, die Ergebnisse der Herzog-Kommission zu konterkarieren. Ich bitte sie alle ganz persönlich, in den nächsten Tagen und Wochen auf allen Ebenen der CDU und CSU sich aktiv in die Programmdiskussion einzuschalten und wo immer möglich, Gegenvorschläge gemäß unseren Kölner-Leitsätzen einzubringen.“

Leipziger Reformparteitag

Der große Reformparteitag der CDU fand am 1. Dezember 2003 in Leipzig statt. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Anträge des CDU-Bundesvorstandes zur Zukunft der sozialen Sicherungssysteme (Herzog-Papier) und zu einem modernen Einkommensteuerrecht (Merz-Papier).

Angela Merkel eröffnete den Parteitag mit folgenden Worten:

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde, vor uns liegen zwei Tage mit bedeutenden Weichenstellungen für unsere Partei. Nach vielen Wochen intensiver Diskussion werden wir heute und morgen ein großes Reformpaket vollenden. Von diesem Parteitag in Leipzig geht das Signal hinaus: Wir, die Christlich Demokratische Union Deutschlands, haben die programmatische Kraft, den geistigen Führungsanspruch und den politischen Gestaltungswillen, Deutschland wieder nach vorne zu bringen! Denn Deutschland kann mehr.“

Der Leipziger Parteitag der CDU wurde in der Tat ein Reformparteitag: Die Delegierten folgten dem „Herzog-Papier“ und beschlossen, die lohnabhängigen Beiträge bei der Kranken- und Pflegeversicherung durch eine Gesundheitsprämie von 180 Euro monatlich zu ersetzen. Auch Friedrich Merz setzte sich mit seinem Vorschlag durch, den Progressionstarif bei der Einkommensteuer abzuschaffen und stattdessen gestaffelte Steuersätze von 12, 24 und 36 Prozent einzuführen. Beide Konzepte wurden von den Delegierten mit überwältigender Mehrheit angenommen.

Angela Merkel hatte ihr Ziel erreicht: Mit den Beschlüssen auf dem Parteitag hatte die CDU unter Beweis gestellt, dass sie zu großen Reformen bereit und in der Lage war. Damit hatte Angela Merkel persönlich zu Gerhard Schröder (SPD) aufgeschlossen, der im März 2003 als Bundeskanzler mit der „Agenda 2010“ öffentlichkeitswirksam ein umfangreiches Reformpaket auf den Weg gebracht hatte. Nach dem Leipziger Parteitag konnte sich Angela Merkel ebenfalls als Reformpolitikerin feiern lassen. Den erbitterten Widerstand des Sozialflügels der Partei nahm sie dafür in Kauf. Sozialpolitiker wie Norbert Blüm oder Karl-Josef Laumann waren in der Partei isoliert.

Schröders Agenda 2010

Mit dem Leipziger Parteitag fand die CDU zudem den Anschluss an Gerhard Schröders „Politik der neuen Mitte“, mit der die SPD den nächsten Bundestagswahlkampf bestreiten wollte. Dazu gehörte ein umfassendes Reformprogramm, das aus mehreren Teilen bestand:

• Erstens aus einer Einkommensteuerreform, die den Eingangssteuersatz von 25,9 auf 15,0 Prozent und den Spitzensteuersatz von 53,0 auf 42,0 Prozent absenkte.
• Zweitens aus einer Reform der Rentenversicherung mit dem Ziel, die Rente hinsichtlich der demografischen Änderungen sicher zu machen.
• Und drittens aus der Reform des Arbeitsmarktes mit der Agenda 2010, die das eigentliche Herzstück der Reformen bildete.

Als die CDU ihren Reformparteitag in Leipzig abhielt, wurden die von Schröder angekündigten Reformen bereits umgesetzt: Die Arbeitsmarktreform der Agenda 2010 bestand aus insgesamt vier Abschnitten, die nach Peter Hartz, dem Vorsitzenden der Reformkommission, benannt wurden. Hartz I liberalisierte die Zeitarbeit. Hartz II erlaubte die sogenannten Minijobs. Hartz III modernisierte die Bundesagentur für Arbeit. Und Hartz IV führte die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zum „Arbeitslosengeld II“ zusammen, das heute als „Hartz IV“ bezeichnet wird. Hinter diesen Maßnahmen verbarg sich ein neues Verständnis von Sozialpolitik, das der Maxime folgte: „Fördern und Fordern“.

Die Durchsetzung dieses Programms in der SPD erforderte Mut und Risikobereitschaft. Es gab heftigen Widerstand auf Seiten der Gewerkschaften und der SPD-Linken. Gerhard Schröder ließ sich dadurch aber nicht beirren und setzte das Programm um. Er sagte dazu: „Im Prinzip des Forderns ist begründet, dass auch der Arbeitslose etwas bringen muss. Wenn er zumutbare Arbeit ablehnt, mit nicht zureichenden Gründen, muss er bereit sein, Sanktionen zu akzeptieren.“ Diese Überzeugung kostete ihn letztendlich das Kanzleramt. 

In der damaligen Reformdebatte habe ich die Bedeutung und die nachhaltigen Wirkungen der Agenda 2010 unterschätzt. Im Rahmen einer MIT-Vorstandsklausur sagte ich zu diesem Reformwerk: „Die Agenda 2010 wird nicht zu mehr Wachstum führen. Die positiven Ansätze werden durch die negativen Wirkungen kompensiert. Das Sammelsurium von Vorschlägen und der Streit darüber haben zu einer starken Verunsicherung der Verbraucher und Investoren geführt. Die Folgen sind Konsumzurückhaltung und fehlende Investitionsneigung. Die Agenda 2010 ist keine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen des immer stärker werdenden internationalen Wettbewerbs. Der Standort Deutschland hat sich dadurch nicht verbessert.“

Heute habe ich dazu eine andere Einschätzung: Die von Gerhard Schröder auf den Weg gebrachten Reformmaßnahmen, vor allem seine Steuer- und Rentenreform und die Agenda 2010, waren die Initialzündung und Grundlage für die wirtschaftliche Erholung, die im Jahr 2005 mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel einsetzte. Merkels Verdienst war dieser lang anhaltende Aufschwung jedoch schon deshalb nicht, weil es in ihrer Regierungszeit keine wirtschaftsfreundlichen Reformen mehr gegeben hat.

Sozialpolitischer Widerstand

Der Leipziger Parteitag wurde vom Wirtschaftsflügel der CDU als Erfolg gefeiert. Es war gelungen, die Partei grundsätzlich auf den Reformkurs einzuschwören. Wichtige Teile der von der MIT beschlossenen „Kölner Leitsätze“ waren Programm der CDU geworden, auch wenn die Beschlüsse nicht an die Agenda 2010 von Schröder heranreichten.

Der MIT-Vorstand war sich jedoch darüber im Klaren, dass das Spiel damit noch nicht gewonnen war. Der Sozialflügel der Partei hatte schon in Leipzig seinen Widerstand gegen die Gesundheitsprämie angekündigt. Auch Horst Seehofer (CSU) wetterte vehement gegen eine Systemänderung bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In der CSU gab es Widerstand, weil die Leipziger Beschlüsse mit ihr nicht abgestimmt worden waren. 

Angesichts solcher Widerstände kam der neu gewählte MIT-Bundesvorstand auf die Idee, eine Kommission „Reformbegleitung“ einzurichten und mir deren Leitung zu übertragen. Aufgabe dieser Kommission sollte es sein, die CDU-Parteiführung bei der Durchsetzung der Leipziger Beschlüsse zu unterstützen. Eine unmögliche Aufgabe, wie sich schon sehr bald herausstellte:

Horst Seehofer (CSU) erklärte öffentlich, dass er den von Angela Merkel gewollten Systembruch bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht mittragen werde. Unterstützung erhielt er nicht nur vom Sozialflügel der Union, sondern er konnte auch große Teile der CSU auf seine Seite bringen. Seinen Widerwillen gegen die Gesundheitsprämie demonstrierte er zudem dadurch, dass er sich mit der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt über gesundheitspolitische Änderungen im bestehenden System verständigte: So wurden Zahnersatzleistungen gekürzt und Zuzahlungen (Praxisgebühr) angeordnet, um die Finanzlage der GKV zu verbessern. Im Übrigen sollte jedoch alles beim Alten bleiben, weil das deutsche Krankenversicherungssystem nach Meinung von Seehofer/Schmidt „weltweit nach wie vor als Vorbild dient“. Die Gesundheitsprämie bezeichnete Seehofer als politischen „Sympathiekiller“.

Mit solchen Aktivitäten verfolgte der Sozialflügel der Union das Ziel, die Leipziger Beschlüsse zur Gesundheitsreform grundsätzlich in Frage zu stellen. Dazu dienten auch die öffentlich geäußerten Zweifel zur Finanzierbarkeit der Gesundheitsprämie.  Führende Politiker der CSU stellten Angela Merkel die Frage, wie die Leipziger Sozial- und Steuerkonzepte zusammenpassten. Nach ihrer Meinung waren die Reformvorhaben finanziell „nicht kompatibel“.

Um einer Erosion der Leipziger Beschlüsse entgegen zu wirken, warnte der MIT-Vorstand öffentlich vor einem Reformstillstand. Ohne Abkoppeln der sozialen Sicherungssysteme vom Faktor Lohn werde es in Deutschland kein Wachstum mit höherer Beschäftigung geben. Die CDU müsse deshalb an den Leipziger Beschlüsse bei der Kranken- und Pflegeversicherung festhalten.  MIT-Vorsitzender Peter Rauen sagte der Tageszeitung DIE WELT: „Wir verdienen nur dann Vertrauen, wenn wir an unseren zukunftsweisenden Konzepten ohne Abstriche festhalten.“ Man dürfe Leipzig nicht „weichspülen“.

Angela Merkel begann aber bereits in aller Stille rechnen zu lassen, um den Bedenken der Bayern Rechnung zu tragen. Dabei mussten notgedrungen zentrale Punkte des Gesundheitskonzepts korrigiert werden. Gestrichen wurde die Verpflichtung der Krankenkassen, Rücklagen zu bilden. Für Geringverdiener wurde die maximale Belastung auf 14 Prozent des Bruttoeinkommens festgesetzt. Auch die angekündigte Steuersenkung sollte geringer ausfallen.

Tatsächlich hatte sich die CSU aber längst von der Gesundheitsprämie verabschiedet. „Sehr viele würden nicht verstehen, wenn alle den gleichen Beitrag zur Krankenversicherung zahlen sollen“, sagte Edmund Stoiber. Horst Seehofer verteilte unter Unionsabgeordneten ein Thesenpapier, das der Gesundheitsprämie ein vernichtendes Urteil ausstellte - unabhängig davon, wie Merkel sie ausgestalten würde. „Die gleichzeitige Aufhebung des Solidarprinzips in der Krankenversicherung, die Abschaffung der paritätischen Beitragsfinanzierung und die Umverteilung von oben nach unten wird in der Bevölkerung nicht vermittelbar sein“, behauptete Seehofer.

Doch im November 2004 einigte sich Angela Merkel mit Edmund Stoiber auf einen Kompromiss zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen. Der Kompromiss sah vor, dass das System der lohnabhängigen Beiträge durch eine Kombination von Gesundheitsprämie (109 Euro), Arbeitgeberbeiträge (6,5 % des Bruttolohns) und Steuerzuschüssen (für mitversicherte Kinder) ersetzt wird. Horst Seehofer wollte jedoch auch diesen Kompromiss nicht mittragen.

Für die MIT lehnte ich den Kompromiss in einer Pressemitteilung ebenfalls ab, weil damit keines der angestrebten Reformziele (Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten, Sozialausgleich über das Steuersystem, Transparenz der Gesundheitskosten) erreicht wurde. Außerdem sah der Kompromiss vor, dass der Arbeitgeberbeitrag nicht direkt an die Kassen, sondern über einen zwischengeschalteten staatlichen Fonds gezahlt werden sollte. Damit wäre die Gesundheitsbürokratie nur noch weiter aufgebläht werden.

Erledigung des Merz-Papiers

Das auf dem Leipziger Parteitag beschlossene „Merz-Papier“, wonach der Progressionstarif bei der Einkommensteuer abgeschafft und durch einen Stufentarif von 12, 24 und 36 Prozent ersetzt werden sollte, erlitt ein ähnliches Schicksal. Der Reformvorschlag erledigte sich dadurch, dass die rot-grüne Bundesregierung Gesetzesvorlagen einbrachte, die am Progressionstarif festhielten, aber den Eingangssteuersatz sowie Spitzensteuersatz absenkten.

Angela Merkel und Friedrich Merz bemühten sich zwar, diese Gesetzesinitiativen im Bundesrat scheitern zu lassen. Gerhard Schröder gelang es aber, sich mit den Ländern, einschließlich der Länder mit CDU-Regierungen, zu einigen. Entscheidend für die Landesregierungen war, dass sie bei Zustimmung zu den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung im Unterschied zum „Merz-Papier“ nicht mit einer Minderung der Steuereinnahmen rechnen mussten. Denn die Gesetzesvorschläge der Bundesregierung sahen vor, dass die Mindereinnahmen auf Grund der geplanten Absenkung des Tarifs durch eine Erweiterung der Bemessungsgrundlagen für die Besteuerung kompensiert werden sollten. Dazu zählten beispielsweise Begrenzungen des Verlustabzugs und des Zinsabzugs bei Gesellschafterdarlehen sowie die Einbeziehung der Freiberufler bei der Gewerbesteuer. Das „Merz-Papier“ enthielt eine solche Gegenfinanzierung nicht.

Nachdem sich die Länder für das Steuerkonzept der amtierenden Bundesregierung entschieden hatten, war die Chance für ein niedriges und einfaches Steuersystem, wie es das „Merz-Papier“ vorsah, in der Sache erledigt. Die MIT konnte nur noch versuchen, die von der Bundesregierung geplanten Maßnahmen zur Gegenfinanzierung einzugrenzen. So konnte im Vermittlungsausschuss verhindert werden, dass die Freiberufler gewerbesteuerpflichtig wurden.

Nach dem Scheitern der Union in der Steuerpolitik bemühten sich die Führungen von CDU und CSU um Schadensbegrenzung: In einer gemeinsamen Grundsatzerklärung vom 26. Januar 2004 bekundeten beide Seiten die Absicht, die Steuerlast in Deutschland durch einen „völligen Neuansatz“ zu senken. Ein neues Steuerrecht sollte einfach, gerecht und übersichtlich sein. Die Gewerbesteuer sollte durch eine Beteiligung der Kommunen an der Einkommen- und Körperschaftssteuer ersetzt werden. Die Erbschaftssteuer bei Unternehmen sollte gestundet und bei Fortführung des Betriebes deutlich reduziert werden.

Friedrich Merz erhielt den Auftrag, mit dem Bayerischen Finanzminister dafür detaillierte Leitsätze zu erarbeiten. Über die Ergebnisse hat die Öffentlichkeit jedoch nie etwas erfahren.


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