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Die Flüchtlingskrise
29.12.2015 11:55 (5279 x gelesen)

Die Flüchtlingskrise

Bisher konnte Angela Merkel die Öffentlichkeit in Krisenzeiten davon überzeugen, dass sie die Probleme im Griff hat und "zielorientiert und pragmatisch" an deren Lösung arbeitet. Daran jedenfalls ließen ihr engerer Führungskreis sowie die maßgeblichen Medien in Berlin keinen Zweifel aufkommen. In der Flüchtlingskrise war aber erstmals ein deutlicher Stimmungsumschwung festzustellen. Man fragte sich verwundert, warum die Bundesregierung solange untätig geblieben ist. Auch Äußerungen zur Willkommenskultur ("Unser Asylrecht kennt keine Obergrenze." oder "Wir können die Grenzen nicht schließen." oder "Wir schaffen das!") wurden kritisch hinterfragt. Auf europäischer Ebene war man irritiert, dass Angela Merkel die in Ungarn gestrandeten Flüchtling aus Syrien und Afghanistan entgegen dem geltenden Asylrecht nach Deutschland einreisen ließ.

Das Ergebnis ist eine in der Flüchtlingsfrage tief gespaltene Nation. "Die einen wollen die Flüchtlinge loswerden, die anderen tun so, als seien wir zu grenzenloser Hilfe verpflichtet", beklagte sich Boris Palmer, grüner Bürgermeister von Tübingen. "Beide Seiten hören den anderen überhaupt nicht mehr zu und verurteilen sich gegenseitig. Beides macht pragmatische Lösungen unmöglich. Und nur mit Pragmatismus ist es überhaupt noch zu schaffen."

Inzwischen hat sich auch innerhalb der Union ein tiefer Riss gebildet. Horst Seehofer (CSU) hat Merkels Entscheidung, die aus Ungarn Richtung Deutschland marschierenden Flüchtlinge ins Land zu lassen, als "Fehler" bezeichnet. Er verlangte von ihr eine "Gegen-Signal", um vor aller Welt das Ende der deutschen Willkommenskultur bekannt zu geben: "Der jetzige Zuzug überfordert uns. Es sind zu viele. Es fehlen Maß und Zeit." Angela Merkel (CDU) lehnte dies jedoch kategorisch ab: "Es wird den Aufnahmestopp nicht geben." Sie will den Zuzug zwar managen, ihn aber nicht begrenzen, wie Horst Seehofer es verlangt.

Öffnung der Grenzen

Die europäische Flüchtlingskrise ist nicht über Nacht entstanden. Sie ist vielmehr Teil einer globalen Entwicklung, deren Brisanz die meisten Politiker in Europa unterschätzt oder verdrängt haben. Auch die Bundesregierung war darauf nicht vorbereitet. Erst als der Strom muslimischer Flüchtlinge, die über die Balkanroute nach Deutschland strebten, Österreich erreichte, begann man in Berlin zu reagieren, intuitiv und ohne Konzept. 

Zu dieser Handlungsweise  gehörte auch die einsame Entscheidung von Angela Merkel in der Nacht zum 5. September 2015, die deutsche Grenzen zu Österreich für Flüchtlinge zu öffenen, die sich auf der ungarischen Autobahn Richtung Deutschland befanden. Die Führung der Bundespolizei, die für den Grenzschutz verantwortlich ist, erfuhr davon aus den Medien und fragte im Innenministerium nach: Sind das nicht alles unerlaubte Grenzübertritte? Machen sich unsere Beamten nicht sogar strafbar, wenn sie diese geschehen lasse? Eine klare Antwort aus dem Ministerium erhielten die Bundespolizisten nicht.

Aus Berlin  kamen vielmehr Signale für eine großzügige "Willkommenskultur", die sich unter Flüchtlingen durch Selfies mit der Bundeskanzlerin blitzschnell herumsprach. Angela Merkel avancierte zur "Heiligen" aller Migranten. Sie rechtfertigte ihre Haltung später damit, dass „das Grundrecht auf Asyl keine Obergrenze kennt". Wohl aber sieht das europäische Asylrecht vor, dass ein Flüchtling den  Antrag auf Asyl in dem Land zu stellen hat, in dem er das EU-Gebiet erstmals betritt. Und das war für die ankommenden Flüchtlinge aus Ungarn nicht Deutschland.

Der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich war der Erste, der Angela Merkel für die Grenzöffnung kritisierte. „Eine beispiellose politische Fehlleistung“ sei es gewesen, die Flüchtlinge ins Land zu lassen, darunter vielleicht „IS-Kämpfer oder islamische Schläfer“, schimpfte Friedrich. Sein Chef Horst Seehofer legte nach und bezeichnete die Grenzöffnung öffentlich einen „Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird“. Außerdem meldeten schon bald die meisten Bundesländer dem Bundesinnenminister, dass sie zurzeit keine neuen Flüchtlinge mehr aufnehmen konnten.

Unions-Innenpolitiker drängten Merkel daraufhin intern, die Grenzöffnung wieder rückgängig zu machen. In einer Telefonkonferenz, an der die fünf wichtigsten Politiker der Koalitionsregierung teilnehmen, schlug  Innenminister Thomas de Maizière vor, dass angesichts der Überforderung der Bundesländer zeitlich befristet wieder Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze eingeführt werden sollten. Und  - der springende Punkt -  ankommende Flüchtlinge sollten an der Grenze zurückgewiesen werden. Auch Angela Merkel stimmte zu.

Nach der Telefonkonferenz rief de Maizière sofort den Chef der Bundespolizei an, der die bereits  vorbereitete Aktion am 12. September anrollen ließ. Die Bundespolizisten bezogen Stellung, um am nächsten Tag die Grenzen für sämtliche Flüchtlinge zu schließen. Es fehlte nur noch der konkrete Einsatzbefehl. Auch der war bereits geschrieben. Er enthielt den entscheidenden Satz: "Wer nicht einreiseberechtigt ist, soll auch im Falle eines Asylgesuches zurückgewiesen werden". Dies entsprach der Rechtslage.

Kurz vor der beabsichtigten Grenzschließung  trafen sich im Lagezentrum des Innenministeriums hohe Bundesbeamte, um den Einsatzbefehl mit Thomas de Maizière abzustimmen. Während die für Sicherheit zuständigen Beamten für die Möglichkeit der Zurückweisung argumentierten, wiesen die für die Zuwanderung zuständigen Beamten auf das in der Dublin-Verordnung vorgesehene „Zuständigkeitsbestimmungsverfahren“ hin. Bedenken, die unbegründet waren: Das Innen- und Justizministerium kamen später zu der "gemeinsamen Rechtsauffassung", dass Zurückweisungen an der Grenze möglich waren.

Im Laufe dieser Debatte telefonierte de Maizière dreimal mit Angela Merkel, die weder ja noch nein sagte, sondern plötzlich Bedenken bekam und ihre Meinung änderte. Nach dem letzten Telefonat ordnete de Maizière an, dass der Einsatzbefehl umgeschrieben werden müsse. Dieter Romann, der Chef der Bundespolizei, musste jenen Satz ändern, auf die es ankam: Statt Zurückweisungen „auch im Falle eines Asylgesuches“ wurde die Polizei jetzt angewiesen, dass „Drittstaatsangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten ist“. Es sollte zwar kontrolliert werden, aber jeder, der Asyl sagt, musste  hineingelassen werden - egal ob er aus einem sicheren Drittstaat oder einem sicheren Herkunftsland kam. 

Damit waren die Grenzen für jederman offen und der Staat verlor die Kontrolle über die Zuwanderung. Es war eine einsame Entscheidung von Angela Merkel, die die Flüchtlingskrise in Deutschland auslöste. Die Polizisten an der Grenze konnten es kaum glauben: dafür der ganze Aufwand!?

Europäische oder nationale Lösung?  

Die Bundesregierung setzt in der Flüchtlingspolitik nicht auf eine nationale, sondern auf eine europäische Lösung: Gemeinsam sollen die Flüchtlingsursachen bekämpft und die EU-Außengrenzen geschützt werden. Eintreffende Flüchtlinge sollen nach Quoten auf die EU-Mitgliedsländer verteilt werden. Die EU-Binnengrenzen bleiben jedoch offen. Dies ist auch die Position der EU-Kommission. 

Angela Merkel hat die CDU-Funktionäre auf dem Parteitag Anfang Dezember 2015 auf diese Linie eingeschworen. In der mit großer Mehrheit beschlossenen "Karlsruher Erklärung" heißt es zwar, dass der "Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen durch wirksame Maßnahmen spürbar verringert" werden soll, eine "Obergrenze" für die Flüchtlingsaufnahme oder die Möglichkeit einer "Grenzschließung", wie sie Horst Seehofer gefordert hatte, sieht der Beschluss aber nicht vor. Der Beschluss folgt Angela Merkel auch darin, dass die Flüchtlingskrise grundsätzlich nicht auf nationaler, sondern auf europäischer und internationaler Ebene gelöst werden muss. An der deutschen Grenze sollen nur vorübergehende Grenzkontrollen zur Identifizierung von "Straftätern, Gefährder und Schleuser" möglich sein. Darüber hinaus spicht sich die Karlsruher Erklärung für die Einschränkung des Asylrechts und des Familiennachzugs sowie die Intensivierung von  Abschiebungen aus.

Angela Merkel lässt sich in der Flüchtlingspolitik davon leiten, dass der seit 1985 stufenweise geschaffene Schengen-Raum (= offene Grenzen zwischen EU-Mitgliedern) als "europäische Errungenschaft" nicht aufgegeben werden darf. Ein solcher transnationaler Raum ohne Kontrolle von Binnengrenzen kann dauerhaft aber  nur unter drei Bedingungen funktionieren (Thilo Sarrazin in FAZ vom 7. März 2016):

  • Es gibt ein Grenzregime an den Außengrenzen, das die Nationalstaaten vor unerwünschtem Zutritt ebenso wirksam schützt wie nationale Grenzkontrollen.
  • Es gibt eine völlige Übereinstimmung in der Einwanderungspolitik aller Mitgliedstaaten; denn wer einmal eingewandert ist, kann sich frei bewegen.
  • Es gibt eine völlige rechtliche und tatsächliche Übereinstimmung bei der Behandlung von Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und illegalen Einwanderern. Dazu gehören auch vergleichbare sozialstaatliche Leistungen, damit kein Sozialtourismus aufkommt.

Dreißig Jahre nach den ersten Schengen-Abkommen ist keine dieser Bedingungen erfüllt. Einen wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen gibt es nicht. Die Boots-Flüchtlinge, die auf der Insel Lampedusa stranden, oder der "illegale Flüchtlingsstrom" aus der Türkei nach Griechenland lassen daran keinen Zweifel. Zuständig für den Schutz der Außengrenzen der EU sind nicht die Organe der EU, sondern die Staaten mit einer Außengrenze. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex darf nur unterstützen, aber nicht selbst eingreifen. Länder wie Italien und Griechenland sind mit dieser Aufgabe überfordert  oder zeigen sich desinteressiert. Denn es ist viel einfacher, die Flüchtlinge in Bussen nach Norden oder über die "Balkanroute" weiterreisen zu lassen, als im Mittelmeer oder  an der Grenze zur Türkei wirksame Grenz- und Küstenkontrollen durchzuführen.

Es gibt im Schengenraum auch keine Übereinstimmung in der Einwanderungspolitik und bei der Behandlung von Asylbewerbern pp. Das sogenannte Dublin-Abkommen hatte 1991 geregelt, dass Flüchtlinge und Asylbewerber sich in dem Land registrieren lassen und ihren Asylantrag stellen müssen, in dem sie zum ersten Mal den Boden des Schengen-Raums betreten. Als Folge einer "Praxis des Durchwinkens" wurde diese Regel faktisch außer Kraft gesetzt. Es gelang auch bis heute nicht, sich auf Verteilungsquoten für die aufzunehmenden Asylbewerber zu einigen. 2015 gab es im Gebiet der Europäischen Union rund 1,6 Millionen irreguläre Grenzübertritte. Niemand weiß, wer diese Menschen sind und wo sie sich befinden. Die europäische Flüchtlingspolitik hatte den Kontakt zur Wirklichkeit und damit auch zu den Asylverfahren vollständig verloren. Jan Techau, Chef von Carnegie Europe in Brüssel, stellte dazu fest: "Die Europäische Kommission hat wichtige Vorschläge zur Lösung des Flüchtlingsproblems gemacht. Aber es fehlt der politische Wille der Mitgliedsstaaten, diese auch umzusetzen. Die EU-Flüchtlingspolitik macht nicht nur den Menschen, sondern auch sich selbst etwas vor, wenn sie etwas beschließen, das dann aber in der Praxis nicht standhalten kann." 

Angesichts dieser chaotischen Entwicklung stellte sich die Frage, was Angela Merkel bewogen hat, an ihrer "Politik der offenen Grenzen" so lange festzuhalten. Weit verbreitet ist die Meinung, sie handele als Tochter eines Pfarrers aus einem "humanitären Imperativ" heraus. In der Tageszeitung DIE WELT vom 3. März 2016 widerspricht  Robin Alexander dieser Ansicht: "Merkel handelte aber gar nicht rein idealistisch, wie ihre neuen Fans von den Grünen glauben, oder gesinnungsethisch, wie ihr verstörte Parteifreunde vorwerfen. Gemeinsam mit Wolfgang Schäuble entwickelte sie im September vielmehr eine Strategie. Deutschland sollte gemeinsam mit Schweden, Österreich und noch zu überzeugenden weiteren ´Willigen´ so lange Flüchtlinge und Migranten allein aufnehmen, bis ganz Europa so weit sei, dies zu tun."  Verkürzt gesagt: Deutschland sollte solange unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen, bis die übrigen EU-Staaten bereit waren, dem deutschen Vorbild zu folgen. Eine solche Strategie - wenn es sie denn gegeben hat - ist an den europäischen Realitäten längst gescheitert.

Im Rahmen einer europäischen Lösung setzt Angela Merkel alle Hoffnungen auf die Türkei: Das Land soll sich gegen finanzielle Hilfen, Verhandlungen über den EU-Beitritt sowie Einreiseerleichterungen für türkische Staatsbürger verpflichten, die Lage in ihren Flüchtlingslagern zu verbessern und die Grenzen zur EU wirksamer zu kontrollieren. In Berlin herrscht der Glaube, dass die Türkei veranlasst werden kann, den Flüchtlingsstrom wirksam zu stoppen oder deutlich zu begrenzen. Nicht wenige halten diese Strategie für naiv, wenn nicht sogar für gefährlich. Der Kölner Staatsrechtslehrer Otto Depenheuer hält sie sogar für verlogen: Einerseits predige man den menschenrechtlichen Universalismus, andererseits wisse man aber, dass nicht alle kommen können. Der türkische Präsident Erdogan müsse nun als "Dirty Harry" herhalten und das erledigen, was Deutschland vermeiden will - die Abweisung von Flüchtlingen an der Grenze.     

Unabhängig von solchen Einwürfen blieb Angela Merkel bei ihrem Türkei-Projekt, das die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel im Dezember 2015 behandelten, ohne sich zu einigen. Im Einzelnen:

  • Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, die Grenzschutzagentur Frontex zu einem Europäischen Grenz- und Küstenschutz auszubauen, um die löchrigen Außengrenzen besser zu schützen. Viele Staaten, wie beispielsweise Polen, Ungarn und Griechenland, waren gegen den Vorschlag, weil sie Eingriffe in die nationale Souveränität fürchteten.
  • Die Türkei verlangt von der EU für die Verbesserung der Lage der Flüchtlinge in der Türkei eine Finanzhilfe von drei Milliarden Euro. Die EU-Länder konnten sich über die Aufbringung dieser Mittel nicht einigen.
  • Nur acht Länder waren bereit, sich an der Umsiedlung von etwa 40.000 bis 50.000 Flüchtlingen zu beteiligen, um die Türkei zu entlasten.
  • Es gab auch keine Einigung über konkrete Beschlüsse zur Bekämpfung des Terrorismus.    

Das Scheitern des Gipfels war für die EU-Kommission und Angela Merkel eine Katastrophe. In der Abschlusserklärung hieß es zwar diplomatisch: "Die EU-Regierungen hat in den vergangenen Monaten eine Strategie entwickelt, um die unerwarteten Flüchtlingsströme zu bewältigen. Die Umsetzung ist jedoch unzureichend und muss weiter beschleunigt werden." Tatsächlich hatte der Gipfel aber gezeigt, dass die EU wegen tiefgreifender Meinungsunterschiede in der Flüchtlingspolitik handlungsunfähig war. Nur eine kleine Gruppe von EU-Ländern war bereit, dem Kurs der offenen Grenzen von Angela Merkel zu folgen und sich auf feste Aufnahmequoten festzulegen.

Die Flüchtlingswende

Nach dem Scheitern des Gipfels begannen die EU-Mitgliedsländer, auf nationaler Basis nach Lösungen für die Eindämmung des Flüchtlingsstrom zu suchen. Als erstes Land riegelte Ungarn seine Südgrenze mit Zäunen und Grenzanlagen gegen den illegalen Übertritt von Flüchtlingen ab. Gleichzeitig führten acht der 26 Staaten des Schengen-Raumes wieder Personenkontrollen an den Grenzen zu EU-Nachbarn ein. Die entscheidende Wende trat ein, als die österreichische Regierung Anfang 2016 beschloss, pro Jahr nur noch bis zu 37.500 Flüchtlinge aufzunehmen, und Tageskontingente für 80 Asylbewerber festsetzte. Ende Februar 2016 trafen sich Regierungsvertreter aus Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien zu Beratungen in Wien. "Der Migrationsfluss durch die Balkanroute muss massiv reduziert werden", hieß es in der gemeinsamen Abschlusserklärung. Der griechischen Regierung, die nicht eingeladen war, wurde vorgeworfen, die EU-Außengrenzen nur unzureichend zu schützen. Deshalb wolle man nach der Ankündigung der österreichischen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner das Nicht-EU-Mitglied Mazedonien bei der Grenzsicherung gegenüber Griechenland  "voll und ganz unterstützen".

Dies bedeutete, dass für die meisten Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland kamen, die schnelle Weiterreise über die Balkanroute nach Norden verschlossen war. Auf die Proteste aus Brüssel, Berlin und Athen antwortete der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mit der Ankündigung, er wolle die Bürger seines Landes über die von der EU beschlossenen Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen abstimmen lassen. "Bis jetzt hat niemand die Menschen in Europa gefragt, ob sie die verpflichtende Quote zur Zwangsansiedlung von Migranten haben wollen oder ob sie das ablehnen", sagte er in Budapest. Die Machtlosigkeit der EU konnte deutlicher nicht zum Ausdruck gebracht werden.

Die österreichische Initiative war auch die Aufkündigung einer "Freundschaft", die seit Beginn der Flüchtlingspolitik zwischen Angela Merkel und dem österreichischen Ministerpräsidenten Werner Faymann bestand, als die Grenzen für die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge geöffnet wurden.  "Wir können diese Herausforderung nur gemeinsam lösen", hatte Faymann damals gesagt. Und im Sinne der Willkommenspolitik von Angela Merkel hinzugefügt: "Balken auf für die Menschlichkeit." Zur neuen Flüchtlingspolitik Österreichs sagte  Angela Merkel: "Es hilft nicht, wenn wir einseitige oder einzelne Beschlüsse fassen; vielmehr müssen alle 28 Mitgliedstaaten zusammen Beschlüsse fassen." Auch die EU-Kommission protestierte und warnte vor der Auflösung des Schengenraumes. Sie konnten aber immer weniger Regierungen überzeugen, weil der Zustrom von Flüchtlingen aus der Türkei nach Griechenland trotz des Winterwetters anhielt.

Nach der Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze erklärte die griechische Regierung den Notstand. Angeblich seien 25.000 Flüchtlinge in Griechenland gestrandet, das Land breche zusammen. Tatsächlich kamen in der Hafenstadt Piräus weiter Massen von Flüchtlingen an, die aus der Türkei zu den griechischen Inseln der Ost-Ägäis übergesetzt hatten. Im Zentrum Athens verbrachten Hunderte Flüchtlinge - darunter auch Familien mit Kleinkindern - die Nacht im Freien, wie Augenzeugen berichteten. Tausende Migranten waren mit allen möglichen Verkehrsmitteln und auch zu Fuß gen Norden unterwegs zur mazedonischen Grenze. Dort kam es zu tumultartigen Szenen, als Migranten versuchten, die Grenzsperren mit Gewalt zu beseitigen.

Das Flüchtlingsmanagement der griechischen Behörden war chaotisch. "Es scheitert schon an einfachsten Dingen", erklärte die Mitarbeiterin einer schweizerischen Hilfsorganisation im Hafen von Piräus. Der Generalsekretär der Caritas Österreich beschrieb die Situation an der griechisch-mazedonischen Grenze als schrecklich: "Es kann nicht sein, dass Kinder und Frauen zwischen den Grenzen hin- und her geschoben werden, weil es keine klaren politischen Lösungen gibt." Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras drohte: "Griechenland wird auf keinen Fall ein Lager für verlorene Seelen werden." Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich besorgt: "Wir dürfen Griechenland nicht im Stich lassen". Sie habe aber nicht die Absicht, die an der griechisch-mazedonischen Grenze festsitzenden Flüchtlinge in einer abermaligen humanitären Aktion in Deutschland aufzunehmen. "Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten in Griechenland. Die müssten auch von den Flüchtlingen genutzt werden." Es gelte, das System von Schengen wieder umzusetzen und eine "Politik des Durchwinkens" zu beenden.

Der österreichische Bundeskanzler forderte Angela Merkel auf,  sie solle "eine Tagesquote festlegen - und nach dieser Flüchtlinge von Griechenland, der Türkei oder Jordanien nach Deutschland bringen". Österreich dürfe nicht der "Warteraum" für Flüchtlinge sein, die nach Deutschland wollen. Hierauf reagierte der Regierungssprecher mit dem Satz: "Deutschland operiert nicht mit Tagesquoten". Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte in Berlin, die geforderte "Wende" in der deutschen Flüchtlingspolitik habe "längst stattgefunden". Wenn die Kanzlerin sage, die Flüchtlinge müssten in Griechenland bleiben,  "dann ist das natürlich das Gegenteil " der Politik des letzten Jahres, der Politik der offenen Grenzen. Auch Horst Seehofer sah darin eine "Wende" und lobte die Balkanländer, die unter Führung Österreichs die Migrationsroute ab Mazedonien geschlossen hatten. 

Demgegenüber kritisierte Angela Merkel nach einem Besuch beim französischen Präsidenten Francois Hollande die Alleingänge mehrerer EU-Staaten in der Flüchtlingskrise. " Wir sind gemeinsam überzeugt: Einseitige Lösungen helfen uns nicht weiter". Notwendig sei eine einheitliche Antwort Europas auf die Flüchtlingskrise. Der Besuch diente der Vorbereitung des nächsten EU-Gipfels. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kritisierte die schärferen Einreisebestimmungen Österreichs an den Grenzen zu Slowenien. "Wenn Grenzen gezogen werden zwischen zwei Schengen-Ländern, sind wir dabei, den Binnenmarkt zu zerstören." Gleichzeitig fordert EU-Ratpräsident Donald Tusk Wirtschaftsflüchtlinge auf, in ihrer Heimat zu bleiben. "Kommen Sie nicht nach Europa. Glauben Sie den Schmugglern nicht. Setzen Sie Ihr Leben und Ihr Geld nicht aus Spiel."

Die türkische Rettung?

Angela Merkel hatte sich politisch in eine verzweifelte Lage manövriert: Ihre Flüchtlingspolitik spaltete die Gesellschaft, die Umfragewerte der Union sanken und in der EU hatte sich Deutschland isoliert. So konnte sie nur auf den für den 7. März 2016 geplanten EU-Gipfel hoffen, auf dem die EU-Türkei-Agenda neben Griechenland der wichtigste Tagesordnungspunkt sein sollte. Für Angela Merkel begann dieser Gipfel am 6. März 2016 in der türkischen Botschaft mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, der ihr überraschend folgenden Plan unterbreitete:
• Die Türkei erklärte sich bereit, die illegal nach Griechenland eingereisten Flüchtlinge zurückzunehmen, wenn die EU im gleichen Umfang syrische Flüchtlinge aufnimmt. Zweck dieses  „Eins-zu-eins-Mechanismus“ sollte es sein, die illegale Einwanderung aus der Türkei nach Griechenland zu stoppen, indem die legale Einwanderung in die EU ermöglicht wird.
• Darüber hinaus verlangte Davutoglu von Merkel die Zusage, dass pro Jahr zwischen 150.000 und 250.000 von der türkischen Regierung ausgesuchte Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden.
• Die Kosten für den Flüchtlingstransport sollte die EU übernehmen. Außerdem sollte die EU zu den bereits in Aussicht gestellten 3 Milliarden Euro weitere 3 Milliarden Euro an die Türkei für die Versorgung der Flüchtlinge in den türkischen Lagern zahlen.
• Die Visumspflicht für die Einreise türkischer Bürger in die EU sollte kurzfristig wegfallen. Außerdem erwartete die Türkei, dass die eingeschlafenen Beitrittsverhandlungen zur EU durch die Eröffnung neuer "Kapitel" unverzüglich wieder aufgenommen werden.

Angela Merkel stimmte diesem Plan zu. Sie erklärte sich auch mit dem Kontingent von 150.000 bis 250.000 Flüchtlingen einverstanden, die aus humanitären Gründen aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden sollten. Hierauf einigte man sich per Gentleman´s Agreement, weil Angela Merkel es nicht wagte, der deutschen Öffentlichkeit die volle Wahrheit zuzumuten. Angela Merkel traf erneut eine einsame Entscheidung, ohne die zuständigen Gremien einzubeziehen. Der deutsche Bundestag hat bis heute nicht über das Flüchtlings-Kontingent abgestimmt, das Merkel dem türkischen Ministerpräsidenten versprochen hat. Selbst Horst Seehofer wurde nicht eingeweiht. 

Auf dem EU-Gipfel am nächsten Tag legte der türkische Ministerpräsident die Richtung fest: "Die Türkei ist zur Zusammenarbeit mit der EU bereit. Die Türkei ist auch bereit, Mitglied der EU zu werden."  Niemand widersprach und die Gipfelteilnehmer beschlossen, dass der türkische Plan auf dem nächsten Gipfeltreffen weiter beraten werden sollte. Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, kritisierte die Bundesregierung grundsätzlich wegen ihres Zickzackkurses in der Türkei-Politik: "Statt Mitgliedschaft wollten wir Ankara nur noch eine privilegierte Partnerschaft anbieten. Jetzt, wo wir sie wegen der Flüchtlingskrise brauchen, öffnen wir neue Verhandlungskapitel. Ich glaube, wir stünden glaubwürdiger da, wenn wir diese Volten nicht gemacht hätten."

Der Erfolg für Angela Merkel bestand darin, dass es ihr wenige Tage vor wichtigen Landtagswahlen gelungen war, als Alternative zu nationalen Grenzschließungen einen nach ihrer Meinung "europäischen Plan"  zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen zu präsentieren. Der Widerstand der überrumpelten EU-Partner ließ aber nicht lange auf sich warten: "Wir werden keinen Millimeter abweichen von unserer Position", sagte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. "Das heißt, Mazedonien bleibt weiterhin zu." Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ließ erklären, er habe eine Umverteilung von Flüchtlingen aus der Türkei mit einem "Veto" belegt. Außerdem warnten führende Politiker die Bundesregierung vor zu schnellen und weitreichenden Zugeständnissen an die Türkei. Für Sigmar Gabriel (SPD) war ein rascher Beitritt der Türkei zur EU kein Thema: "Die Europäische Union ist nicht in dem Zustand, in dem sie die Türkei aufnehmen könnte. Die Türkei ist nicht in einem Zustand, in dem sie Mitglied der Europäischen Union werden könnte."  Der CSU-Generalsekretär stellte klar: "Die Bundeskanzlerin kennt die Haltung der CSU. Nein zum EU-Beitritt der Türkei und zur vollständigen Visa-Freiheit - Ja zur privilegierten Partnerschaft und zu Visa-Erleichterungen vor allem für die Wirtschaft." 

Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) verteidigte jedoch das Gipfeltreffen als Wendepunkt: "Wir haben zum ersten Mal die konkrete Chance, die Flüchtlingskrise zu lösen, ohne unsere humanitären Ansprüche aufzugeben. Wir gehen davon aus, dass der illegale Flüchtlingsstrom bei konsequenter Anwendung dieser Vereinbarung sehr schnell und sehr nachhaltig versiegen wird." .EU-Ratspräsident Donald Tusk sah demgegenüber in der Schließung der Balkanroute die eigentliche Lösung der Flüchtlingskrise und dankte den anliegenden Staaten dafür, dass sie niemanden mehr ohne gültigen Reisepass und Visa die Grenze passieren ließen.  "Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkan-Route ist das Ende erreicht", schrieb Donald Tusk. Dies sei eine gemeinsame Entscheidung aller 28 EU-Staaten, also auch von Angela Merkel, die sich anschließend jedoch distanzierte und inbesondere Österreich und Slowenien für die Grenzschließungen kritisierte. "Das ist genau das, wovor ich jetzt Angst habe: Wenn der eine seine Grenze definiert, muss der andere leiden. Das ist nicht mein Europa." 

Die Bundesregierung bemühte sich auch weiterhin darum, die EU-Staaten für den Vorschlag der Türkei zu gewinnen. Auf dem EU-Gipfeltreffen am 17./18. März 2016 einigten sich die 28 EU-Staaten mit der türkischen Regierung, dass ab sofort alle illegal aus der Türkei einreisenden Flüchtlinge in Griechenland registriert und nach individueller Anhörung in die Türkei zurückgeschickt werden sollen. Im Gegenzug soll die EU für jeden zurückgeschickten Flüchtling einen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtling, maximal 72.000 Personen, in die EU einreisen lassen. Es gebe damit keinen Anreiz mehr, sich in die Hände von Schmugglern zu begeben und den gefährlichen Weg über die Ägäis zu wählen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die Einigung zwischen der EU und der Türkei sieht weiter vor, dass die finanziellen Hilfen der EU an die Türkei auf sechs Milliarden Euro verdoppelt, die EU-Beitrittsgespräche beschleunigt und die Visa-Liberalisierung für Reisen türkischer Bürger in die EU vorgezogen werden. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sprach von einem historischen Tag und einer sehr wichtigen Vereinbarung. Für ihn stehe fest, dass die EU und die Türkei "dasselbe Schicksal und dieselbe Zukunft" teilten. "Für die Türkei gibt es keine Zukunft ohne die EU, und für die EU gibt es keine Zukunft ohne die Türkei."  Für den türkischen Präsidenten Erdogan war die Vereinbarung mit der EU ein großer innenpolitischer Erfolg, weil er seinen 80 Millionen Bürger die Aufhebung der Visumspflicht für die EU mitteilen konnte.     

Der Vereinbarung mit der Türkei stimmten zwar alle 28 EU-Staaten zu, die Zweifel waren damit aber nicht ausgeräumt. Fraglich erschien schon vielen, ob Griechenland und die Türkei überhaupt  in der Lage waren, den Rücktransport einer größeren Masse von illegal eingereisten Flüchtlingen in völkerrechtlich zulässiger Weise zu organisieren und umzusetzen. Die griechische Asylbehörde beschäftigte insgesamt nur 260 Mitarbeiter, die überwiegend in den von der EU geforderten Zentren zur Registrierung und Verteilung ("Hotspots") gebunden waren. Außerdem hatte keines der zwischen der Türkei und Griechenland bereits bestehenden Rückführungsabkommen wirklich funktioniert. So stellte Griechenland aufgrund dieser Abkommen 2014 knapp 9700 Anträge auf Rückführung, doch die Türkei erklärte sich nur in 470 Fällen aufnahmebereit. Tatsächlich wurde die Abschiebung in sechs Fällen vollzogen. Für voreiligen Optimismus gab es deshalb wenige Gründe.

Tatsächlich ging die Zahl der Flüchtlinge, die von der Türkei aus nach Griechenland illegal übersetzten, nach dem Abschluss der europäisch-türkischen Vereinbarung deutlich zurück. Mögliche Gründe waren die Schließung der Balkanroute, Ausweichrouten der Flüchtlinge, verschärfte Grenzkontrollen oder der Abschreckungseffekt der Vereinbarung. Damit stellte sich für die EU die entscheidende Frage, ob und wie die Türkei bei der Rücknahme von Flüchtlingen weiter mitspielen werde. Sieben Monate nach dem Inkrafttreten des Türkei-Abkommens zeigte sich folgendes Bild: Insgesamt steckten 14.000 Menschen in Auffanglagern unter teils erbärmlichen Bedingungen auf den ägäischen Inseln fest. Eine Weiterreise war ihnen auf Grund des Abkommens untersagt, gleichzeitig mussten sie monatelang auf die Bearbeitung ihres Asylantrages warten. Nur 643 Personen wurden gemäß dem Abkommen in die Türkei zurückgeschickt. Laut Davis Kipp, Migrationsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) handelt es sich bei dem Türkei-Abkommen um eine Fehlkonstruktion.  

Die Bundesregierung geriet mit ihrer Türkei-Politik vollends ins Abseits, als im August 2016 aus einer von ihr als vertraulich eingestuften Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorging, dass Ankara seit Jahren mit Islamisten zusammenarbeitet. In der offenbar auf Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes basierenden Stellungsnahme heißt es: "Als Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras hat sich die Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen für die ägyptische MB (Muslimbruderschaft), die Hamas und Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien durch die Regierungspartei AKP und Staatspräsident Erdogan unterstreichen deren ideologische Affinität zu den Muslimbrüdern." Für die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei mit der Veröffentlichung dieses Berichts "ein für allemal gescheitert. Ich erwarte von der Bundesregierung und der EU, dass sie ihre Flüchtlingspolitik aus ganz neue Füße stellt." 

Die große Migrationswelle

Mit der von Angela Merkel angestrebten EU-Türkei-Lösung allein lässt sich der Flüchtlingsstrom weder begrenzen noch aufhalten. Denn die eigentliche Ursache für das Flüchtlingsproblem sind nicht die Kriege im Irak und in Syrien, sondern der Zustand der meisten arabischen Gesellschaften, die "verrottet sind und der Jugend die Zukunft stehlen" (Necla Kelec in DIE WELT vom 4. Dezember 2015). Aus diesen Gründen will ein Großteil der Jugend diese Länder auf Dauer verlassen und nach Europa auswandern. "Junge Menschen wenden sich von ihren Gesellschaften ab, weil sie als Bürger in diesen Ländern gering geschätzt werden und man ihnen keine Entfaltungsmöglichkeiten in Arbeit, Bildung, Kunst und Kultur für eigene Entwicklung einräumt," schreibt Necla Kelek. "Die islamisch- autoritären Gesellschaften sind durch die hohe Geburtenrate zwar demografisch junge Gesellschaften, geistig aber überaltert. Alt, weil sie seit ewigen Zeiten aus Imitation und Wiederholung leben und Innovation und Zweifel aus ihrem Denken verbannt haben. Die Jugend hat zu gehorchen und keine Chance, etwas anders als die Alten zu machen. Diese Ökonomien produzieren oder entwickeln nichts Eigenes. Sie bestehen aus Händlern und Wirten und kennen keine vitale Unternehmenskultur."

Der französische Islam-Experte Gilles Kepel bestätigt diese Analyse: "Ich bereise die arabische Welt seit 35 Jahren. Ich bin überalle auf einen gewissen Zerfall gestoßen. Es gibt eine demografische Explosion, ein Zerbröseln der politischen Systeme. Mehrere große arabische Länder in der Nachbarschaft Europas sind gescheiterte Staaten." In gleicher Weise warnt der englische Migrationsforscher Paul Collier (Die Welt vom 29. Januar 2016) die Europäer vor einem zu engen Blickwinkel: "Man muss da ganz klar unterscheiden. Wir haben es in dieser Flüchtlingskrise zum einen mit gescheiterten Staaten wie Syrien zu tun. Den Menschen, die von dort flüchten, geht es um das nackte Überleben. Da reden wir von ungefähr 14 Millionen Menschen. Und dann gibt es noch all jene, die in armen Ländern leben und sich auf den Weg in die reiche westliche Welt machen, um dort ihr Glück zu finden. Das sind Hunderte Millionen Menschen. Eine gewaltige Masse, die, wenn sie sich einmal in Bewegung setzt, kaum noch steuerbar ist."  Die deutsche "Willkommenskultur" und insbesondere das Verhalten der Bundeskanzlerin kritisiert der Migrationsforscher scharf: "Und dann kommt da die deutsche Kanzlerin und spricht davon, dass Europas Türen offen sind. Überlegen Sie doch einfach mal, wie das bei diesen Menschen ankommt. Bis zum vergangenen Jahr waren Flüchtlinge für Europa kein großes Thema. Ich verstehe bis heute nicht, warum Frau Merkel so gehandelt hat. Sie hat Deutschland und Europa damit definitiv ein gewaltiges Problem aufgebürdet, das sich nun auch nicht mehr so einfach lösen lässt".

Auch das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung kommt mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in Afrika und im Nahen Osten zu dem Ergebnis, dass der Migrationsdruck auf Europa mittelfristig stark zunehmen wird. Das Institut spricht von einem "Pulverfass vor den Toren Europas". Im arabischen Raum leben derzeit etwa 370 Millionen Menschen, deren Zahl bis zum Jahr 2030 aufgrund der hohen Geburtenrate um fast 100 Millionen steigen wird. In Afrika und Arabien zusammen leben 1,3 Milliarden Menschen, deren Zahl sich nach der UN-Bevölkerungsprognose bis 2050 auf 2,7 Milliarden verdoppeln dürfte. "Das Hauptproblem ist, dass das Bevölkerungswachstum viel schneller ist als das Jobwachstum", sagte der Direktor des Berlin-Instituts. Vor allem in den ärmsten und an wenigsten entwickelten Ländern ist die Kinderzahl extrem hoch: In den arabischen Ländern liegt die durchschnittliche Kinderzahl je Frau bei über vier, in Afrika zwischen 5,5 und 7,5. Es ist ausgeschlossen, dass für diesen Nachwuchs in ihren Ländern ausreichend Arbeitsplätze geschaffen werden können.

Der gewaltige Jugendüberschuss führt zwangsläufig zu hoher Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, so dass ein erheblicher Teil der jungen Leute ans Auswandern denkt. Nach einer Gallup-Umfrage von 2009 wollten in den Subsahara-Ländern 39 Prozent der Menschen ihre Länder dauerhaft verlassen, überproportional viele junge. "Allerdings können nur wenige diese Wünsche bislang verwirklichen. Millionen Migranten in Afrika und Arabien gehen zunächst in Nachbarländer; erst zeitverzögert - und nachdem zerfallene Staaten wie Lybien den Weg übers Mittelmeer eröffnen - beginnt die Migration nach Europa", schreibt Philip Plickert in der FAZ vom 8. August 2016. Bisher gibt es von Seiten der EU keinen überzeugenden Vorschlag, wie man auf diese globale Herausforderung reagieren will.

Der Drang nach Europa, insbesondere Deutschland, wird erst dann nachlassen, wenn allen potentiellen Migranten klar ist, dass auch eine erfolgreiche Ankunft in Deutschland nicht mehr zum Bleiberecht führt, wenn die Voraussetzungen für politisches Asyl nicht gegeben sind. Um dies zu erreichen, sind nach einem Beitrag von Thilo Sarrazin in der FAZ vom 22. August 2016 zwei grundlegende rechtliche Änderungen notwendig: 1. Die Genfer Flüchtlingskonvention muss dahin geändert werden, dass die europäischen Staaten zur Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge anderer Kontinente, aber nicht zu ihrer Aufnahme auf dem eigenen Gebiet verpflichtet sind. 2. Ansprüche eines nach Deutschland Eingereisten auf Leistungen des deutschen Staates und die Möglichkeit, hinsichtlich des Aufenthaltsstatus vor deutschen Gerichten zu klagen, dürfen erst zu dem Zeitpunkt aufleben, zu dem der Betroffene im Rahmen einer Vorprüfung einen legalen Aufenthaltsstatus erhält. Davor muss er rechtlich gesehen als nicht eingereist gelten.  


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